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Jochen Hippler

Pakistan: Ein scheiternder Nuklearstaat?

 

 

Während in den westlichen Ländern die politische und Sicherheitslage in Afghanistan seit langem intensiv diskutiert wird, übersieht man das Nachbarland Pakistan. Dies könnte sich als schweres Versäumnis erweisen, da Pakistan - ein Land mit ca. 170 Millionen Einwohnern - von strategisch weit größerer Bedeutung ist: Millionen von pakistanischen Migranten in Großbritannien, Kanada und anderswo können einen Transmissionsriemen der dortigen Konflikte darstellen. Auch das Gewaltniveau im höchst fragilen Pakistan hat das in Afghanistan spätestens seit 2009 deutlich überschritten, als über 12.000 Tote durch Krieg und politische Gewalt zu beklagen waren. Schließlich verfügt Pakistan - wie Indien, Israel und Nordkorea - über Atomwaffen (ca. 60-80 Sprengköpfe), deren Sicherheit zum Teil von der innenpolitischen Stabilität abhängt. Häufig wird gefragt, ob das Land auf dem Weg zu einem failed state sei, also zu einem gescheiterten Staat. So wurde Pakistan 2009 auf dem zehnten Platz des weltweiten „Failed State Indexgeführt, nachdem es 2005 noch auf Platz 34 gestanden hatte.

Insgesamt ist deshalb die Frage der Instabilität in Pakistan von hoher regionaler und globaler Bedeutung - nicht allein wegen der wichtigen Rolle Pakistans im Afghanistankrieg.


Historische Ausgangspunkte.

Als 1947 das britische Kolonialreich in Indien endete, wurden Indien und Pakistan unabhängig. Die Gründung eines neuen Staates war in Pakistan schwieriger als in Indien, da dieses Land als Verwaltungseinheit in der Geschichte noch nie existiert hatte. Bei der Aufteilung der kolonialen Staatsorgane befand sich Pakistan offenkundig im Nachteil, da die meisten staatlichen Einrichtungen ihren Hauptsitz auf dem Gebiet des neuen indischen Staates hatten. Die Staatsgründung Pakistans mußte deshalb am Nullpunkt beginnen, da die nötige Infrastruktur erst geschaffen werden mußte und selbst das erforderliche Verwaltungspersonal fehlte. Letzteres wurde bald durch die ins Land strömenden Muhajirs (ehemalige Flüchtlinge bzw. Migranten aus Indien, vornehmlich in Karachi und Hyderabad/Provinz Sindh) ausglichen, zu denen auch verwaltungserfahrene Beamte gehörten. Der neu entstehende Staat wurde schnell von einem informellen Bündnis dieser neuen Bürokratie mit den traditionellen Großgrundbesitzern – insbesondere des Punjab – und dem erstarkenden Militär getragen. Die überwältigende Mehrheit der pakistanischen Bevölkerung war bis zu den ersten Wahlen (1970) von einer Teilnahme an staatlichen Angelegenheiten praktisch ausgeschlossen.

Das erste Jahrzehnt des neuen Staates brachte eine Periode politischer Instabilität, bei der sich schwache Regierungen in schneller Folge ablösten. Dies änderte sich 1958, als der säkulare General Ayoub Khan putschte und die Macht an sich riß, die das Militär erst 1971 nach dem Bürgerkrieg und der Unabhängigkeit des früheren Ostpakistans (nun Bangladesh) wieder verlor. Damit hatte der ständige Wechsel zwischen zivilen und militärisch geführten Regierungen begonnen, der die pakistanische Geschichte und den pakistanischen Staat bestimmt. Weitere Perioden der Militärherrschaft gab es von 1977-1988 (unter General Zia ul-Haq, der eine islamistische Ideologie vertrat) und von 1999 bis 2008 (unter General Musharraf, der sich dem US-geführten „Kampf gegen den Terrorismus“ anschloß). In der Zeit dazwischen wechselten sich durch Wahlen bestimmte, zivile und säkulare Regierungen der Pakistanischen Volkspartei (PPP, geführt von Benazir Bhutto) und der Pakistanischen Muslimliga (PML, geführt von Nawaz Sharif) ab. Seit 2008 regiert eine vom Präsidenten Zardari (PPP) geführte Koalition.


Deformierte Staatlichkeit.

Ein chronisches Problem Pakistans besteht in der Deformation und Schwäche großer Teile des Staatsapparates. Während einerseits viele staatliche Sektoren (Schulen, Gesundheitsversorgung, Polizei, Justizwesen, allgemeine staatliche Verwaltung) sich in einem kläglichen Zustand befinden (z.T. aufgrund des hohen Korruptionsniveaus), ist das Militär gut organisiert und finanziell gut ausgestattet. Auch wenn unter Präsident Musharraf in einigen Bereichen Fortschritte erzielt wurden (etwa bei den Universitäten), bleiben viele staatliche Bereiche ausgesprochen schwach (selbst der zivile Geheimdienst, das Intelligence Bureau, IB, scheint sich gegenwärtig in einer Krise zu befinden), während vor allem das pakistanische Heer und einige andere bewaffnete Kräfte (Personalstärke einschließlich paramilitärischer Einheiten insgesamt 920.000) professionell geführt werden und gut ausgestattet sind. Deshalb ist der Staat in Pakistan insgesamt weder „stark“ noch „schwach“, sondern beides zugleich, er ist deformiert und befindet sich in einer strukturellen Schieflage. Während viele zivile Teile des Staatsapparates ihre Funktionen nur mit Mühe und großen Einschränkungen bewältigen können, ist das Militär stark genug, um weiter der entscheidende Machtfaktor zu sein, der die Gesellschaft direkt oder indirekt dominiert.

Ein wichtiger Schwachpunkt im pakistanischen Governance System besteht an der Schnittstelle von Staat und Gesellschaft, nämlich im Charakter seiner zivilen politischen Eliten. Deren Kern besteht traditionell aus ländlichen Eliten von Großgrundbesitzern, die oft mit den Spitzen der Bürokratie und des Militärs verknüpft sind. Inzwischen dringen langsam Teile der städtischen, modernen Wirtschaftseliten in den Kern der Macht vor, etwa einzelne Industrielle oder Bankiers. Allerdings ist erkennbar, daß diese Repräsentanten moderner Wirtschaftssektoren nicht selten aus Familien der „feudalen“ Großgrundbesitzer stammen, so daß offene Gegensätze zwischen diesen noch kaum zu beobachten sind. Ein politischer Aufstieg von Repräsentanten der Mittelschichten (und erst Recht der armen Bevölkerungsmehrheit) in die politische Machtelite ist bisher ausgesprochen selten, wenn man von der großstädtischen, säkularen Regionalpartei der Muhajir und Teilen der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami (JI) einmal absieht.

Diese enge Struktur der politisch-gesellschaftlichen Elite hat starke Rückwirkungen auf die Organisation politischer Machtverhältnisse und auf den Charakter von Staatlichkeit. Dabei spielen insbesondere die politischen Parteien eine Schlüsselrolle, da sie eine wichtige Schnittstelle von Gesellschaft und Staat bilden. Die pakistanischen Parteien sind nicht demokratisch verfaßt, um Impulse aus der Gesellschaft in den Staatsapparat hineinzutragen, sondern stellen eine Verbindung der autoritären Herrschaft weniger Führungspersönlichkeiten (oft um eine Familie gruppiert) mit flexiblen, neopatrimonialen Netzwerken aus lokal oder regional einflußreichen Personen und Cliquen dar, oft mit ländlichem Großgrundbesitz. Aufgrund dieser Struktur sind die Parteien programm- und ideologieschwach (mit partieller Ausnahme der religiösen Parteien) und schlecht organisiert. Es handelt sich eher um die Vernetzung regionaler Honoratioren und ihrer Klienten auf der Ebene der Provinzen oder des ganzen Landes zum wechselseitigen Nutzen. Politische Absichten, das Streben nach Einfluß oder Posten, nach Begünstigung oder Bereicherungsmöglichkeiten sind beim Führungspersonal eng verknüpft. Solche lockeren Parteistrukturen mögen Ansätze überregionaler Organisation darstellen, aber sie sind keine Organisationsform, die der organisatorischen und finanziellen Macht der Streitkräfte gewachsen wäre. Zugleich bedeutet der undemokratische Charakter der Parteien (innerparteiliche Wahlen gibt es fast nicht), daß sie nur sehr bedingt als Mittel der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft taugen. Insgesamt stellt das verzerrte und oligarchisch geprägte Governance-System Pakistans eine ständige Quelle der Instabilität dar und ist für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme wenig geeignet.

Neben ökonomischen Schwierigkeiten und strukturellen Defekten läßt sich feststellen, daß die aus den Governance-Strukturen resultierende Auswahl des Führungspersonals eine zusätzliche Quelle politischer Unzufriedenheit darstellt und Krisen mit sich bringt. Die Amtsübernahme des gegenwärtigen Präsidenten Asif Ali Zardari aufgrund seiner familiären Bindung an die Familie Bhutto (Witwer von Benazir Bhutto) stellt ein gutes Beispiel dar: Zardari war bereits während der beiden Amtszeiten seiner Frau als Ministerpräsidentin von dieser begünstigt worden (indem er zuerst als politisch unbeschriebenes Blatt zum Abgeordneten gemacht und dann zum Minister ernannt wurde) und trug damals den Spitznamen „Mister 10 Percent“, beziehungsweise – in der zweiten Amtszeit seiner Frau – „Mister 20 Percent“. Zardari machte sich insgesamt vor allem durch Hinterzimmerpolitik und kriminelle Machenschaften einen Namen, nicht als glaubwürdiger politischer Führer. Seinem Aufstieg an die Staatsspitze tat dies trotz der begründeten Skepsis des größten Teils der Bevölkerung (und an der Parteibasis) keinen Abbruch. 

Nach den im Wesentlichen demokratischen Wahlen des Februar 2008, aufgrund derer der zum Ende seiner Amtszeit allgemein verhaßte General und Präsident Musharraf die Macht verlor, bestand für einige Wochen große Euphorie. Der Sieg über die kaum verhüllte Militärherrschaft ließ eine Aufbruchsstimmung entstehen, die die säkularen mit den meisten religiösen Kräften verband. Die Forderungen nach der Respektierung der Verfassung und Demokratie schienen erfüllt, die Wahlsieger von der PPP und PML zusammen mit ihren kleineren Verbündeten würden ein neues Kapitel der pakistanischen Geschichte aufschlagen. Diese Hoffnung wurde schnell enttäuscht. Asif Zardari trieb die PML durch die Nichteinhaltung von Abkommen und Zusagen aus der Koalitionsregierung, erwies sich dann als nicht in der Lage, die wirtschaftliche und bald auch politische Krise in den Griff zu bekommen. Sehr schnell machte sich in der Bevölkerung eine Katerstimmung breit, und schon im Oktober 2008 meinten 88 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, daß sich das Land in die falsche Richtung entwickele. 73 Prozent der Bevölkerung gaben an, daß sich ihre wirtschaftliche Situation im letzten Jahr verschlechtert habe, 59 Prozent erwarteten für 2009 noch eine weitere Verschlechterung und 67 Prozent waren der Meinung, daß die Demokratie ihre Lebenssituation nicht verbessert habe. Darüber hinaus war das Gefühl einer Bedrohung der eigenen Sicherheit von Juni bis Oktober 2008 von nur 15 auf 78 Prozent gestiegen – was eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage reflektierte. Vor dem Hintergrund dieser Stimmung war es nicht überraschend, daß – je nach Frageformulierung – nur um die 20 Prozent der Regierung oder ihrem Präsidenten ein gutes Zeugnis ausstellten – während es gerade im Westen überraschen dürfte, daß das Bündnis der religiösen Parteien trotz der Krise insgesamt bei Neuwahlen nur 1 Prozent der Stimmen erhalten hatte.


Instabiler Autoritarismus.

Pakistan verfügt, solange nicht das Militär die Macht an sich reißt, über formell demokratische Strukturen. Trotzdem zeigt sich auch in den demokratischen Phasen immer wieder, daß sich der Staatsapparat oft höchst autoritär verhält. Dieser Autoritarismus äußert sich vor allem auf folgende Arten:

(a) Missachtung des Föderalismus.

Die pakistanischen Regierungen neigen dazu, die kleineren Provinzen und die Minderheiten zu ignorieren oder zu benachteiligen, wobei auch die föderalen Bestimmungen der Verfassung ignoriert oder gebeugt werden. Dies läßt sich in massiver Form in Belutschistan, aber auch bezüglich des Sindh und der Nordwestprovinz feststellen. Seit der Staatsgründung wurde – von zivilen wie militärischen Regierungen – nationale Integration vor allem als straffe Zentralisierung aufgefaßt und mit oft rabiaten Mitteln erzwungen, etwa durch die wiederholte Absetzung von Provinzregierungen, auch wenn diese über parlamentarische Mehrheiten verfügten. Die politischen Eliten identifizierten ihre Macht – auch die persönliche des Führungspersonals – mit der Stärke der Zentralregierung auf Kosten der Provinzen und Minderheiten. Dies erzeugt immer wieder Widerstand, der letztlich die nationale Integration schwächt und gelegentlich auch zu gewaltsamem Aufbegehren führt. Eine Kultur des Autoritarismus der politischen Eliten opferte die Ansätze gesellschaftlicher und politischer Integration durch die Bildung kooperativer und rechtlich geregelter Netzwerke zwischen den föderalen Einheiten und der Zentralregierung (und den Kommunen) einem Interesse persönlichen Durchregierens bis auf die Provinz- und Kommunalebene. Auf diese Weise wurde einer hochgradig pluralistischen und heterogenen Gesellschaft ein zentralistischer Staat übergestülpt, der sich föderal maskiert. Zugleich funktioniert dieser Staat in weiten Bereichen aber nur unzureichend.

(b) Mangel an Partizipation.

Nach der Unabhängigkeit blieb in Pakistan der koloniale Charakter des Staatsapparates im Kern erhalten, dieser erhielt nur neue Eliten, etwa „feudale“ Großgrundbesitzer, die Offiziersklasse, hohe Bürokraten. Partizipation der Mittelschichten und der ärmeren Bevölkerung (lange sogar durch moderne Unternehmer) war, wie erwähnt, unüblich und unerwünscht – was sich in einigen Landesteilen in den letzten Jahren als unhaltbar und destabilisierend erweist (z.B. Karachi). Eine inzwischen heranwachsende moderne – teils säkulare, teils islamistische – Mittelschicht fordert nicht allein Rechtsstaatlichkeit, sondern auch Partizipation, was die autoritäre Grundstruktur pakistanischer Staatlichkeit erschüttert und zum Teil – wie bei der Verhängung des Notstandes durch Präsident Musharraf im November/Dezember 2007 – zu krisenhaften Reaktionen der Eliten und politischen Verwerfungen führt. Dieser Mangel an Partizipation gilt auch für die säkularen Parteien, da die Parteien PPP, PML oder ANP kaum mehr als klientelistische Netzwerke sind, die sich um Familiendynastien gruppieren. Auf diese Weise kann selbst ein Erfolg der Opposition die autoritären Grundstrukturen nicht durchbrechen.

(c) Staatliche Manipulation von Gesellschaft und Politik.

In Pakistan hat autoritäre Staatlichkeit häufig soziale Konflikte und das Parteiensystem zum eigenen taktischen Vorteil manipuliert. So haben staatliche Stellen (einschließlich des Militärgeheimdienstes ISI) immer wieder ethnische oder konfessionelle Konflikte punktuell verschärft (Sindh, Karachi, Punjab, NWFP), wenn dies kurzfristig nützlich erschien. Dies trug allerdings nicht selten dazu bei, daß solche Konflikte später nicht mehr zu kontrollieren waren und über ihre taktische Nützlichkeit hinaus eskalierten. Staatliche Stellen haben ebenfalls immer wieder versucht, Parteien zu behindern, zu spalten oder zu zerschlagen, andere gründen lassen oder gefördert, und Parteienbündnisse zusammengefügt, die es sonst nicht gegeben hätte. Beispiele sind die Förderung Nawaz Sharifs und seiner Partei PML durch die Diktatur Zia ul-Haqs, die Unterstützung der Parteienbündnisse IJI (späte 1980er Jahren) und MMA (2002) durch den militärischen Geheimdienst, die Spaltung der PML in zwei Fraktionen durch die Regierung Musharraf oder die taktische Förderung der MQM zur Bekämpfung der PPP (1980er Jahre). Auch diese autoritären Manipulationen neigten dazu, gesellschaftliche und politische Konflikte zuzuspitzen oder erst zu schaffen. Als besonders dramatisch hat sich in diesem Zusammenhang die taktische Förderung religiöser Extremisten (nicht allein durch das Militär, sondern immer wieder auch durch die PML und die PPP der Familie Bhutto; so wurden die afghanischen Taliban durch die zivile Regierung Bhutto protegiert) erwiesen, die später völlig außer Kontrolle gerieten und schließlich einen jihadistischen Untergrund erzeugten, der für einen großen Teil der aktuellen Gewalt verantwortlich ist.

(d) Schwäche des Rechtssystems.

Ein besonderes Problem besteht auch in der Schwäche der pakistanischen Justiz und dem Mangel an Rechtsstaatlichkeit. Unterhalb des Verfassungsgerichts sind die Gerichte oft korrupt und arbeiten langsam und unzuverlässig, was für die Polizei in noch größerem Maße gilt. Selbst demokratisch gewählte Regierungen, erst Recht aber durch Putsch an die Macht gekommene, neigen dazu, selbst Recht zu beugen oder zu brechen. Bis vor einigen Jahren wurde dies von der Bevölkerung mit Resignation hingenommen, unter Präsident Musharraf allerdings bildete sich in der Gesellschaft eine breite Bewegung, die durch Demonstrationen hartnäckig auf Rechtsstaatlichkeit drängt und die Verfassung gegen die Regierung verteidigen möchte.


Das Pendeln zwischen zivilen und militärischen Regierungen.

Ein Grund der Schwäche und Deformation des pakistanischen Staates liegt im ständigen Pendeln zwischen schwachen zivilen und illegalen (wenn auch oft durch juristische Tricks nachträglich „legitimierten“) militärischen Regierungen. Dadurch wird eine Überwindung der strukturellen Probleme des pakistanischen Staates in hohem Maße erschwert. Die periodischen Machtergreifungen des Militärs können nichts dazu beitragen, die grundlegenden Schwächen der zivilen Eliten zu überwinden – etwa den unreifen, klientelistischen und undemokratischen Charakter des Parteiensystems. Die immer wieder erfolgende Entmachtung von Parteien und Parlament führt dazu, daß die Bevölkerung sich mit einer zeitlichen Verzögerung hinter diese Parteien stellt und diese sich so einer Reform entziehen können. Die Inkompetenz und Korruption der zivilen Eliten und ihrer Regierungen laden eine Machtübernahme des Militärs geradezu ein, wodurch der Lernzyklus der zivilen Eliten jäh abbricht. Und die Militärherrschaften versuchen selten, die grundlegenden Probleme des pakistanischen Staates zu beheben: Etwa seinen Autoritarismus, seinen manipulativen Charakter der eigenen Gesellschaft gegenüber, seinen taktischen Umgang mit dem Recht und der Verfassung, oder die Mißachtung der kleineren Provinzen und Minderheiten. Wenn eine Militärherrschaft abgewirtschaftet hat – dabei wird das Militär selbst zu einer Art Partei – beginnt eine neue Runde des Pendelns zwischen ziviler und militärischer Herrschaft. Erst wenn dieser Zyklus dauerhaft unterbrochen wird, kann eine Chance entstehen, die Defekte des Staates in Pakistan zu überwinden.


Gewaltkonflikte.

Aufgrund der innenpolitischen Konflikte, den Defiziten an Mechanismen einer friedlichen Konfliktbeilegung und wegen des Afghanistankrieges herrscht in Pakistan gegenwärtig ein hohes Gewaltniveau. Mehrere Gewaltkonflikte mit unterschiedlichen Ursachen und Konfliktdynamiken sind von Bedeutung:

Konfessionelle Gewalt geht von extremistischen sunnitischen und schiitischen Gruppen aus und richtet sich gegen die jeweils andere Seite, aber auch gegen religiöse Minderheiten (insbesondere Ahmadis und Christen). Dieser Gewaltherd besteht seit der Mitte der 1980er Jahre, als die damalige Militärdiktatur von General Zia ul-Haq aus innenpolitischen Gründen sunnitische Extremisten förderte. Er entstand im zentralen Punjab, breitete sich inzwischen allerdings auf viele Landesteile aus.

  • In Belutschistan kam es in den letzten Jahren erneut (wie bereits in den 1970er Jahren) zu einem Aufstand ethnonationalistischer belutschischer Gruppen, die sich gewaltsam gegen die Dominanz des Zentralstaates bzw. die punjabische Vorherrschaft wenden. Hier spielt Religion bisher keine Rolle.
  • Die ethnische Gewalt zwischen Sindhis, Muhajir und z.T. Paschtunen im Großraum Karachi hatte in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt (bis zu 2000 Tote pro Jahr in Karachi). Die Lage dort hat sich inzwischen deutlich entspannt, wenn auch die Konflikte nicht wirklich gelöst wurden. Ethnische Konflikte waren und sind dort mit sozialen und einem Stadt-Land-Gegensatz verknüpft.
  • Der dramatischste Gewaltherd besteht allerdings gegenwärtig in der paschtunisch geprägten Nordwestprovinz (NWFP), insbesondere in den dortigen Stammesgebieten, den Federally Administered Tribal Areas, FATA. Auch wenn dort die Gewalt eine religiöse Form angenommen hat (sunnitisch-deobandischer Extremismus der pakistanischen Taliban), so liegen seine Wurzeln doch in politischen Faktoren, nämlich in der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in der FATA, im Übergreifen des Afghanistankrieges auf die pakistanische Grenzregion, sowie der Ablehnung der Beteiligung Pakistans an US-geführten „Krieg gegen den Terrorismus“. Es handelt sich um einen Aufstand/Bürgerkrieg paschtunischer Extremisten gegen die Zentralregierung und das Militär, der auch terroristische Formen annahm und dessen Anschläge auf andere Landesteile übergegriffen haben.

Da diese einzelnen Konfliktherde bereits an anderer Stelle ausführlicher behandelt wurden, kann ihre nähere Analyse hier unterbleiben.


Fazit.

Pakistan leidet an ernsten Defekten seiner politischen und administrativen Systeme, die beide von großen Teilen der Bevölkerung nicht als legitim akzeptiert werden. Die Deformation des pakistanischen Staates durch die Unterentwicklung seiner zivilen und Überentwicklung seiner militärischen Komponenten sind dabei zentral, aber auch die neo-patrimonialen Neigungen und die Unfähigkeit wie Korruption seiner politischen Eliten tragen dazu bei. Insgesamt schaffen die Defizite im Governance-System ein politisches Vakuum, das politisch-religiöse Extremisten zu füllen versuchen. Allerdings darf die Instabilität Pakistans nicht mißverstanden oder überschätzt werden. Die Gewaltkonflikte sind schmerzhaft und destruktiv, aber sie berühren noch nicht den Kern des politischen Systems. Der Bürgerkrieg in Belutschistan ist für diese Provinz von hoher Bedeutung, für die Stabilität des Gesamtlandes aber marginal, da die dünn besiedelte Provinz politisch kaum relevant ist. Die religiös geprägten Gewaltkonflikte (konfessionell und in der NWFP) sind weit gefährlicher. Allerdings konzentrieren sie sich weiterhin auf politisch und ökonomisch marginale Landesteile (insbesondere die FATA) und gehen ansonsten über terroristische Anschläge nicht hinaus. Die Aufständischen verfügen über beträchtliches Stör- und Zerstörungspotential, sind aber weit davon entfernt, die Machtfrage stellen zu können. Selbst der größte Teil der sunnitischen Radikalen folgt ihnen bei ihrer gewaltsamen Strategie nicht, sondern trägt zum großen Teil sogar ihre gewaltsame Bekämpfung mit. So ist die deobanisch-radikale Partei JUI weiter in der Regierung vertreten, statt sie gewaltsam zu bekämpfen. Die religiösen radikalen oder extremistischen Parteien und Bewegungen verfügen weder über den Rückhalt, durch Wahlen an die Macht zu gelangen (gegenwärtig weniger als 2 Prozent der Parlamentssitze), noch über das Potential einer gewaltsamen Machtergreifung. Die Sicherheitskräfte, insbesondere das Militär und die paramilitärischen Einheiten) haben zwar höhere Verluste zu verzeichnen als die internationalen Truppen in Afghanistan und immer wieder Motivationsprobleme bei den unteren Diensträngen, sind aber weiter die mit Abstand der am besten organsierteste, professionellste und materiell am besten ausgestattetste Machtfaktor Pakistans. Sie können durch Guerillaaktionen und terroristische Anschläge zwar getroffen, aber nicht besiegt werden, solange sie ihre institutionelle Integrität bewahren. In gewissem Sinne wurde diese durch die Angriffe sogar gestärkt, da Sympathie mit religiösen Extremisten zunehmend schwierig wird, wenn man selbst immer wieder zum Ziel deren Gewalt wird und hohe Verluste durch diese zu beklagen hat.

Die Hauptgefahr für die Stabilität Pakistans besteht also nicht in der Stärke der Aufständischen, sondern in der Schwäche des Governance-Systems, das immer wieder ein politisches Vakuum reproduziert.

Jede Strategie zur Stabilisierung des Landes, die wegen seiner strategischen Bedeutung und seines nuklearen Potentials dringlich ist, müßte genau hier ansetzen und sich davor hüten, Pakistan vor allem als Helfer im Afghanistankrieg instrumentalisieren zu wollen, da genau dies wesentlich zur Destabilisierung beigetragen hat.

 

 

 

Quelle:

Jochen Hippler, Pakistan - Ein scheiternder Nuklearstaat?

in: Josef Braml/Thomas Risse/Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Einsatz für den Frieden - Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Jahrbuch Internationale Politik, Band 28, Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, München 2010, S. 123-128
 

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