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Jochen Hippler                                                                                  als pdf-Datei

Der Nahe und Mittlere Osten –
Terrorismus und politische Gewalt

 

Der islamistische Terrorismus zieht seit Jahren die Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere seit den spektakulären Anschlägen des 11. September 2001. Allerdings haben diese dramatischen Terrorakte und die US-amerikanische Reaktion darauf durch ihre emotionale Kraft nicht selten dazu geführt, die Analyse des Terrorismus zu erschweren. So ist etwa häufig in Vergessenheit geraten, dass bereits 1986 die damalige US-Regierung einen „Krieg gegen den Terrorismus“ proklamiert hatte und dass schon in den 1980er und 1990er Jahren (also lange vor dem 11. September 2001) gern und häufig von einem „Neuen Terrorismus“ die Rede war, ein Begriff, der dann später mit Verweis auf Al-Qaida und die Anschläge auf das World Trade Center die politische und wissenschaftliche Debatte prägen sollte. Diese Hinweise sollen nicht bedeuten, dass es bezüglich des Terrorismus keine neuen Entwicklungen gegeben hätte – aber es muss daran erinnert werden, dass unsere Aufmerksamkeit und Analysefähigkeit sich leicht von dramatischen Medienbildern gefangen nehmen lässt. Ähnliches gilt, wenn man an den Terrorismusbegriff selbst oder an seine Assoziierung mit „dem Islam“ oder dem Nahen Osten denkt.

 

Zum Terrorismus-Begriff

Es wurde schon häufig darauf hingewiesen, dass der Terrorismusbegriff oft einen politischen Kampfbegriff darstellt, der dazu dienen soll, die jeweiligen Gegner zu brandmarken. „Des Einen Terrorist ist des Anderen Freiheitskämpfer“ – diese Formulierung des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan (der in den 1980er Jahren bereits einmal einen „Krieg gegen den Terrorismus“ verkündet hatte) bringt dies holzschnittartig auf den Punkt. Der Terrorismusbegriff ist demnach häufig keine analytische, sondern eine politische oder gar demagogische Kategorie. Die deutschen Besatzungstruppen in der damaligen Sowjetunion oder Frankreich wären im Zweiten Weltkrieg nicht auf die Idee gekommen, ihre eigene, systematische Gewalt gegen Zivilisten als Terrorismus zu bezeichnen – werteten aber die Widerstandsakte der Unterworfenen als „terroristisch“. Und während der erwähnte Ronald Reagan dazu neigte, Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt (insbesondere, wenn sie politisch eher links waren) großzügig mit dem Terrorismusvorwurf zu konfrontieren, bescheinigte er den von seiner Regierung bewaffneten und finanzierten „Contras“ in Nicaragua, die selbst vom früheren CIA-Chef Stansfield Turner als terroristisch qualifiziert wurden, „Freiheitskämpfer“ und das „moralische Äquivalent der amerikanischen Gründerväter“ zu sein. Bezogen auf die Situation im Nahen Osten formulierte eine palästinensische Autorin: „Jede palästinensische Gewalttat wird Terrorismus genannt, während jedes israelische Massaker als eine Vergeltungsmaßnahme oder als die Tat eines verrückten Einzelnen dargestellt wird.”

Solche politischen Instrumentalisierungen des Terrorismusbegriffs sind seit langem üblich, und es ist wichtig, sie von analytischen Verwendungen des Begriffs streng zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist, den Terrorismusbegriff nicht so weit auszudehnen, dass er fast bedeutungslos wird. Es kommt erstaunlich häufig vor, dass er praktisch synonym mit „politischer Gewalt durch nicht-staatliche Gruppen“ verwandt wird, so beispielsweise von Moghadam oder Pape. Dies ist allerdings wenig hilfreich. Wer jede Form von politischer Gewalt als terroristisch darstellt, verstellt den Blick dafür, dass dieser gerade eine Besonderheit aufweist: nämlich politische Gewalt gegen Nicht-Kombattanten (also gegen Unbewaffnete, Zivilisten, nicht direkt an einem Gewaltkonflikt Beteiligte) zu sein. Diese Unterscheidung ist aber grundlegend: politische Gewalt gegen bewaffnete Kräfte in einer Konfliktsituation ist und bleibt gewaltsam, trägt aber militärischen oder paramilitärischen Charakter – während politische Gewalt gegen Zivilisten gerade den terroristischen Charakter von Gewalt ausmacht. Damit stimmt im Übrigen auch das US-Außenministerium überein, das Terrorismus so definiert:

„Der Begriff des Terrorismus bedeutet vorsätzliche, politisch motivierte Gewalt, die an Nicht-Kombattanten durch subnationale Gruppen oder Geheimagenten verübt wird, meist um Einfluss auf eine Zielgruppe zu gewinnen.”

Auch diese Definition ist zwar noch nicht völlig befriedigend, da sie zwar staatliche Geheimdienste ein-, andere staatliche Stellen ausschließt, jedoch ein großer Fortschritt, da sie eben nicht alle Gewaltakte umfasst, sondern ausschließlich diejenigen gegen Nicht-Kombattanten. Alles andere würde dazu tendieren, den Terrorismusbegriff zu entleeren und sinnlos werden zu lassen, indem er ihn mit allen anderen Gewaltformen vermischte. Hier wird im Folgenden also Terrorismus als politische Gewalt gegen Zivilisten definiert – unabhängig davon, wer die Gewalt ausübt (wodurch auch staatliche Stellen als mögliche Täter in Betracht kommen).

 

Geographische Schwerpunkte terroristischer Anschläge

Die aktuelle Fixierung auf den islamistischen Terrorismus verstellt häufig den Blick darauf, dass auch in zahlreichen anderen Gesellschaften lokaler oder internationaler Terrorismus ein großes Problem darstellt. So machen politische Entführungen (rund 35.000 Fälle in 2005) weltweit fast die Hälfte aller terroristischen Akte aus, von denen jedoch rund 95 Prozent in einem einzigen – nicht muslimisch geprägten – Land, in Nepal, erfolgten. Wenn wir aufgrund der aktuellen Kriege und Besatzungssituationen im Irak und in Afghanistan diese beiden Länder unberücksichtigt lassen, führen Indien, Kolumbien, Thailand und Nepal die Liste der am stärksten vom Terrorismus betroffenen Länder an. Vor einigen Jahren wäre Sri Lanka ebenfalls massiv vertreten gewesen.

Allein in Indien kamen 2005 etwa so viele Menschen durch internen Terrorismus ums Leben wie im Jahr zuvor auf der ganzen Welt durch den internationalen. Von über 14.600 Todesopfern durch Terrorismus insgesamt (interner und internationaler) ließen sich 2005 aufgrund einer Zählung des US-amerikanischen National Counterterrorism Center nur rund 4000 islamistischen Tätern zuordnen. In rund 58 Prozent aller Fälle ließ sich die Tätergruppe nicht eindeutig bestimmen.

 

Anschlags- und Opferzahlen

Wenn wir den innergesellschaftlichen Terrorismus außer Acht lassen und uns auf den internationalen konzentrieren, ergibt sich auch in längerer Perspektive keine dramatisch neue Entwicklung, etwa gemessen an der Zahl internationaler Terroranschläge oder den Opferzahlen. Im Gegenteil dazu wird deutlich, dass vom Ende der 1960er Jahre bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre die Anschlagshäufigkeit zunahm (von weit unter 200 auf mehr als 600 pro Jahr), und danach wieder auf bis auf unter 200 sank.

Erst 2004 stiegen die Anschlagszahlen nach der Zählung des US-Außenministeriums sprunghaft an: auf 651 Anschläge mit 1907 Todesopfern, von denen allerdings knapp 200 Anschläge allein im Irak erfolgten und zahlreiche weitere einen direkten oder indirekten Zusammenhang zum Irak aufweisen dürften.

Nach Daten des US-Außenministeriums wurden 2005 bei terroristischen Anschlägen weltweit 56 US-Bürger getötet – 47 davon im Irak, der wegen der US-Besatzung offensichtlich einen Sonderfall darstellte. Anders ausgedrückt: 2005 wurden weltweit außerhalb des Iraks neun US-Bürger durch terroristische Anschläge getötet. Die Sonderrolle des Irak ergibt sich aus der Besatzungssituation und daraus, dass fast 30 Prozent aller Terroranschläge weltweit und 55 Prozent aller Todesopfer allein in diesem Land zu beklagen waren.

Insgesamt liegen diese Zahlen in einem Bereich, der Mitte der 1980er Jahre bereits erreicht war. Damit ist deutlich, dass der vorgeblich „neue“ Terrorismus vom Umfang her keine neue Dimension erreicht hat. Betrachtet man das Bedrohungspotential des internationalen Terrorismus, fällt auf, dass seine Opferzahlen (vom Jahr 2001 aufgrund der Anschläge des 11. September einmal abgesehen) in den letzten Jahrzehnten nicht gestiegen und eher gering sind. Bemerkenswert ist auch, dass die berüchtigte Terrororganisation al-Qaida, das zentrale Ziel des US-„Krieges gegen den Terrorismus“, in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt weltweit nur elf Anschläge verübte, die zusammen 304 Todesopfer forderten – zweifellos grauenvolle Verbrechen, aber für sich genommen kaum ein Hinweis auf die überragende Bedeutung und die globale Gefährlichkeit des Terrornetzwerkes.

Die präsentierten Zahlen stammen alle aus offiziellen US-amerikanischen Regierungsquellen. Sie bedeuten nicht, dass man den internationalen Terrorismus auf die leichte Schulter nehmen könnte oder dass dieser nicht eine schwere Belastung für die internationalen Beziehungen darstellte. Aber sie legen zweierlei nahe: Einmal ist der internationale Terrorismus zwar unter humanitären und politischen Gesichtspunkten ein großes Problem, allerdings spricht von der Zahl der Opfer und den anderen direkten und unmittelbaren Folgen her wenig dafür, ihn ins Zentrum der internationalen Politik zu rücken. Zweitens aber ist deutlich, dass der Terrorismus zwar als isoliertes Phänomen von begrenztem Umfang sein mag, dass politische Gewalt jedoch insgesamt (etwa im Rahmen von Aufständen, Kriegen und Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen u.ä.) von höchster und dramatischer Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang ist der innergesellschaftliche und internationale Terrorismus einzuordnen: Er ist nicht von der Gesamtheit politischer Gewalt getrennt, sondern eine seiner zahlreichen Ausprägungen und häufig ein spezielles Instrument, das von politischen Akteuren in Konflikten neben anderen Mitteln eingesetzt wird. Der internationale Terrorismus ist also – im Nahen und Mittleren Osten wie auch anderswo – abgesehen von seinen direkten Schäden und aus humanitären Gründen nicht so sehr als isoliertes Phänomen politisch bedeutsam, sondern in Verbindungen mit anderen Arten gewaltsamer und ziviler Politik. Deshalb müssen beide auch im Zusammenhang analysiert werden.

 

Gewalt und Terrorismus

Wer den Terrorismus verstehen will, muss mit einer Analyse politischer Gewalt im Allgemeinen beginnen, da er nur einen Sonderfall dieser darstellt. Politische Gewalt entsteht nicht ohne Voraussetzungen, sondern in aller Regel im Kontext schwerer gesellschaftlicher und politischer Krisen. Ohne tiefgreifende wirtschaftliche, soziale und politische Konflikte haben es potentielle Gewalttäter schwer, sich eine soziale Basis zu verschaffen und dauerhaft und mit Erfolg zu operieren. Eine krisenhafte Zuspitzung solcher Probleme ist eine notwendige, aber keine hinreichende Quelle von politischer Gewalt. In vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens lassen sich solche Krisensituationen feststellen, die von hoher Arbeitslosigkeit (insbesondere Jugendarbeitslosigkeit), einem oft schamlosen Graben zwischen Arm und Reich, Stagnation oder extrem ungleichmäßiger Entwicklung, Korruption und Lähmung gekennzeichnet sind. Etwa 65 Millionen Araber sind Analphabeten, davon zwei Drittel Frauen. 10 Millionen Kinder gehen gegenwärtig nicht zu Schule, und jeder fünfte Araber lebt von weniger als zwei Dollar (etwa 1,60 Euro) täglich. In den arabischen Ländern sind zwischen 15 und 52 Prozent der Bevölkerung von Unterernährung betroffen.

Solche wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bilden einen „Rohstoff“ für die Entwicklung gewaltsamer Auseinandersetzungen, sind allein aber nicht ausreichend, um Gewalt zu erklären. Armut an sich ist nicht notwendigerweise eine Ursache von Gewalt, so wenig wie Arbeitslosigkeit oder Korruption allein Gewalt nicht zu erklären vermögen. Schließlich existieren in vielen Ländern wirtschaftliche Probleme und soziale Krisen, ohne dass dies immer und automatisch zu Terrorismus, Gewalt oder Bürgerkrieg führen würde. Um aus dem „Rohstoff“ realer Probleme tatsächliche Gewalt erwachsen zu lassen, bedarf es einer entsprechenden psychologischen und emotionalen Verarbeitung: etwa dem verbreiteten Empfinden, dass im vorgegebenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmen keine Aussicht auf Besserung besteht, dass friedliche Wege zur Veränderung unwirksam sind oder verschlossen bleiben. Ein Stau dramatischer wirtschaftlicher und sozialer Probleme bei gleichzeitigem Empfinden, dass diese nicht gelöst und Lösungen „von oben“ blockiert werden, kann dazu beitragen, dass die Gewaltschwelle wesentlich sinkt.

Dazu kommen weitere Faktoren. So ist beispielsweise weniger bedeutsam, dass viele Menschen absolut arm sind. Wichtiger sind oft eine Kluft zwischen Arm und Reich, eine Tendenz, dass sich diese Kluft noch vergrößert – und vor allem eine verbreitete Erwartung entsprechender Verschlechterungen. Auch politisch-psychologische Faktoren wie die Glaubwürdigkeit der sozialen und politischen Eliten sind bedeutsam: traut man den eigenen Eliten zu, tatsächlich an der Überwindung der Probleme zu arbeiten, sind Gewaltausbrüche selten. Betrachtet man sie oder die Regierung aber als unwillig, desinteressiert, unfähig oder korrupt, also stärker als Blockadefaktor und Teil des Problems anstatt als Lösungsansatz, wird Gewalt wahrscheinlicher.

Dabei können symbolische Aspekte eine wichtige auslösende oder verstärkende Rolle spielen: Bilder von Askese predigenden Herrschern, die zum Shopping oder ins Spielkasino nach London fliegen, ein Präsident, der sich im eigenen Land von einer US-amerikanischen Leibwache schützen lässt, verhasste und brutale Diktatoren, die ihre Bevölkerung ignorieren, sich aber in exzessivem Personenkult feiern lassen – solche Erscheinungen können zusätzlich den Widerstand anfachen. Deshalb sind neben wirtschaftlichen und sozialen Problemstaus vor allem politische Faktoren wichtig.

In den meisten nahöstlichen Ländern bestehen Situationen einer massiven Entfremdung zwischen Staat und Regierung einerseits und Bürgern andererseits. In fast allen Ländern bestehen Diktaturen, Schein- und Halbdemokratien, in denen Bürger- und Menschenrechte, demokratische Verhältnisse oder Partizipationsmöglichkeiten weitgehend eingeschränkt sind oder ganz fehlen. Diktaturen und die Verletzung von Menschenrechten allein führen nicht automatisch zu Gewalt, aber sie können zivile, gewaltfreie Regelungen von Konflikten erschweren. Solche Herrschaftssysteme neigen dazu, eine offene Austragung von Verteilungs- und anderen Konflikten zu unterbinden oder zu unterdrücken, was eine Zeit lang zu einer künstlichen Ruhe und Stabilität, langfristig aber zu einem Problem- und Konfliktstau führen kann, der bei geänderten Bedingungen explodiert.

 

Externe Faktoren

Neben solchen internen Konfliktfaktoren bestehen in manchen Ländern noch direkt oder indirekt externe Faktoren, die zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Am massivsten sind häufig Situationen militärischer Intervention oder Besatzung, die zu massiver Gegengewalt führen können. Beispiele dafür waren etwa der Unabhängigkeitskrieg Algeriens gegen Frankreich, die sowjetische Intervention in Afghanistan oder die israelische Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens. Erneut führen militärische Besetzungen oder die Stationierung von fremden Truppen nicht immer, automatisch und sofort zu umfassendem gewaltsamem Widerstand, wie US-Truppen in Saudi Arabien, Pakistan oder Usbekistan, aber auch in Afghanistan und im Irak demonstrieren. Auch dabei kommt es auf den politischen Kontext und die psychologischen Auftreffbedingungen an. Aber mittel- und längerfristig können solche Besatzungs- und Stationierungserfahrungen destabilisierend wirken und spätere, breite Gewaltsituationen vorbereiten. Bei offenen, erkennbaren und „robusten“ Besatzungsregimen (Sowjetunion in Afghanistan, Israel in Palästina, USA im Irak) kann die Schwelle zu Gewalt relativ bald und leicht überschritten werden, in Fällen einer Militärstationierung unter Zustimmung einheimischer Regierungen oder von (Teilen) der Bevölkerung wird diese entweder nicht oder erst deutlich später erreicht. Dabei ist es natürlich bedeutsam, dass fremde Truppenpräsenz in einer Bevölkerung durchaus widersprüchlich eingeschätzt werden kann: selbst wenn eine Mehrheit die fremden Soldaten zustimmend oder eher gleichgültig betrachtet, kann eine Minderheit (politischer, religiöser oder ethnischer Art) sie durchaus als Besatzungsmacht bekämpfen – obwohl oder gerade weil die eigene, ungeliebte Regierung sie ins Land geholt hat.

Schließlich kann sich auch die Wahrnehmung fremder Truppen im Laufe der Zeit radikal ändern – entweder, weil sich diese offensiv oder gewalttätig verhalten („Kollateralschäden“, Folterskandale von Abu Ghraib, arrogantes, rücksichtsloses oder repressives Auftreten) oder weil sich der politische Kontext geändert hat: Wer zu einem Zeitpunkt gleichgültig oder als Befreier akzeptiert wurde, kann später durchaus als fremder Okkupant betrachtet werden und auch gewaltsamen Widerstand provozieren. Solche Entwicklungen haben sich im Fall der US-amerikanischen Truppen in Saudi Arabien bereits als relevant erwiesen – sie wurden abgezogen und nach Katar verlegt – und haben sich in Ländern wie Afghanistan, Pakistan und dem Irak unter anderen Bedingungen wiederholt und zum Teil bereits zu akuten Gewaltkrisen entwickelt.

 

Palästina als Schlüsselfaktor

Der Palästinakonflikt nimmt bei der Frage politischer Gewalt im Nahen und Mittleren Osten und bei Muslimen eine Schlüsselstellung ein. Dies gilt innerhalb Palästinas (und Israels) selbst, aber auch im regionalen Zusammenhang.

Die israelische Besetzung palästinensischen Gebietes (Westbank und Gazastreifen) und die systematische Errichtung israelischer „Siedlungen“ (oft bis zur Größe von Städten) führen zu prinzipiell dagegen gerichtetem – auch gewaltsamem – Widerstand, der durch konkrete Praktiken der Besatzungstruppen, durch die zahlreichen, massiven Einschränkungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebenschancen und das resultierende soziale Elend (z.B. aufgrund der häufigen Abriegelung der besetzen Gebiete) noch forciert wird. Dazu kommen resultierende Gefühle der individuellen Demütigung.

Palästina und die israelische Besatzung sind aber nicht allein die Quelle lokaler, palästinensischer und israelischer Gewalt (an der im Übrigen palästinensische Christen durchaus teilhaben), sondern auch ein Bezugspunkt von Gewalt in der gesamten Region, in verschiedenen arabischen Ländern oder gar über diese hinaus. Die Situation in Palästina emotionalisiert politische Aktivisten weit jenseits von Westbank und Gaza, sie symbolisiert – je nach Bedarf und politischer Präferenz – die Unterdrückung und Misshandlung von Arabern oder Muslimen. Die israelische Besetzung Palästinas und ihre zivilen Opfer symbolisieren eine dauerhafte, hoffnungslose arabische (oder eben: muslimische) Niederlage, eine Demütigung, die mit moralischen Kategorien (Gerechtigkeit, Würde, Selbstbestimmung) verknüpft wird. Palästina stellt die Verkörperung der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit dar, der Wehrlosigkeit gegenüber fremden Unterdrückern, die weder arabisch noch muslimisch sind. Und Palästina symbolisiert zugleich den „Verrat“ der eigenen, arabischen oder muslimischen Regierungen, die ihre „Brüder und Schwestern“ alleinlassen und trotz aller leeren Rhetorik keine ernsthafte Hilfe leisten, sondern gar noch mit den Unterdrückern (oder ihren Unterstützern in den USA oder Europa) gemeinsame Sache machen.

So gewinnt der Palästinakonflikt eine mobilisierende Bedeutung für politische Handlungen und potentielle oder reale Gewaltakte gegen israelische, westliche und innergesellschaftliche Ziele (z.B. die eigenen Regierungen und Eliten), weit über Palästina hinaus. Es lässt sich sogar beobachten, dass die emotionale Kraft des Symbols „Palästina“ mit der Entfernung noch zunimmt: so wird etwa in den weit entfernten Ländern Algerien oder Iran nicht selten eine militantere Rhetorik zu Israel und Palästina gepflegt als in Palästina. Ein schlechtes Gewissen der eigenen Taten- und Hilflosigkeit und politische Instrumentalisierung sind hierbei zentral.

Schließlich dient der Palästinakonflikt auch dazu, das umfangreiche interne Konflikt- und Gewaltpotential in verschiedenen Ländern der Region politisch-psychologisch mit externen Fragen zu verknüpfen. Die soziale, wirtschaftliche und politische Frustration und Hoffnungslosigkeit etwa in Ägypten, die Verachtung oder der Hass auf das Königshaus in Saudi Arabien werden durch deren politische Verknüpfung mit der Palästinafrage internationalisiert: die eigenen Regierungen sind danach nicht allein unfähig, despotisch und korrupt, sondern auch noch „Lakaien“ derjenigen, die in Palästina die Demütigung der Araber (oder Muslime) unterstützen. So geraten die eigenen Regierungen nicht nur wegen ihres Scheiterns ins Visier, die eigenen Gesellschaften voranzubringen, sondern auch „moralisch“, als Kollaborateure fremder Dominanz, Besatzung und Verbrechen.

Zugleich wird „der Westen“ zum politischen Angriffsziel und Hassobjekt: vor allem die USA seien schließlich verantwortlich, dass Israel seit Jahrzehnten palästinensischen (arabischen, muslimischen) Boden besetzen und die dortige Bevölkerung misshandeln könne.

 

Zwischenbilanz

Das Potential politischer Gewalt in muslimischen Ländern entspringt insgesamt einer sozio-ökonomischen Dauerkrise in vielen Ländern, die zu Unzufriedenheit, Perspektivlosigkeit, Aggressivität und Hoffnungslosigkeit führt. Die sozialen Konfliktursachen verbinden sich mit politischen, die sich aus diktatorischen Verhältnissen, Inkompetenz, Korruption und fehlenden Partizipationsmöglichkeiten speisen. Die internen Gewaltursachen wiederum verbinden sich mit externen Faktoren, insbesondere der Erfahrung ausländischer, westlicher Intervention und Vorherrschaft. Beides wird über symbolträchtige Konflikte, insbesondere den Palästina- und den Irakkonflikt, miteinander verknüpft, die zugleich dem Westen und den eigenen Regierungen angelastet werden. Die Besatzungssituationen und Gewalt in Palästina und dem Irak produzieren zugleich direktes Gewaltpotential, wie auch die Legitimation und Mobilisierungsansätze in der gesamten Region.

 

Terrorismus im Rahmen politischer Gewaltkonflikte

Im Nahen und Mittleren Osten tritt Terrorismus – wie in anderen Regionen – selten dauerhaft als isoliertes Phänomen auf, sondern ist in aller Regel im Kontext schwerer politischer Konflikte und mit gewaltlosen und anderen gewaltsamen Politikformen verknüpft. Robert Pape hat aufgrund einer Untersuchung aller Selbstmordanschlage seit 1980 nachgewiesen, dass insbesondere Selbstmordterrorismus weniger aus religiösen Gründen erfolgt, sondern fast immer Teil eines nationalen Befreiungskampfes ist:

„Selbstmordterrorismus ist insgesamt hauptsächlich eine Reaktion auf ausländische Besatzung. Vereinzelte Ausnahmefälle kommen auch unter anderen Umständen vor. Religion spielt eine Rolle. Allerdings kann man den modernen Selbstmordterrorismus am besten als eine extreme Strategie nationaler Befreiung begreifen, die sich gegen demokratischen Staaten richtet, deren Truppen drohen, die Kontrolle über ein Territorium, zu übernehmen, das die Terroristen als ihre Heimat ansehen,.”

Darüber hinaus ergab seine Untersuchung, dass ein islamischer Hintergrund weit geringer ausgeprägt war als allgemein angenommen: So sind etwa die säkular-hinduistischen Tamilischen Befreiungstiger für mehr Selbstmordanschläge verantwortlich als die islamistische Hamas oder Hisbollah, außerdem wurden im palästinensischen Kontext rund ein Drittel aller Selbstmordanschläge von säkularen Gruppen verübt. Dabei wurden von manchen Gruppen z. T. Anschläge unternommen, um gegenüber konkurrierenden Gruppen nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Tatsächlich fällt auf, dass Selbstmordanschläge heute vor allem im Irak, Afghanistan, Palästina und früher – und z. T. in geringerem Maße – in den kurdischen Gebieten der Türkei (durch die säkulare Kurdische Arbeiterpartei PKK), in Sri Lanka (durch die erwähnten „Befreiungstiger“, im Libanon oder in Tschetschenien begangen wurden – alles Länder oder Regionen, die von den fraglichen Akteuren als von fremden Truppen besetzt wahrgenommen wurden. Diese Beobachtung gilt nicht allein für terroristische Selbstmordanschläge, sondern in etwas geringerem Maße auch für den Terrorismus allgemein.

Zugleich ist offensichtlich, dass in diesen und anderen Fällen die terroristischen Praktiken (also politische Gewalt gegen Nicht-Kombattanten) nicht das einzige oder zentrale Kampfmittel waren, sondern neben und in Verbindung mit anderen gewaltsamen und gewaltlosen Taktiken eingesetzt wurden – mit sozialer Organisation und Protest, spontaner Gewalt gegen Soldaten durch Zivilisten (etwa durch Steine werfende Jugendliche), Anschläge gegen Besatzungstruppen, öffentliche Erklärungen und diplomatische Aktivitäten, politische Verhandlungen, Teilnahme an Wahlen, Bereitstellung sozialpolitischer Unterstützung und vieles mehr. In den meisten Fällen – mit der teilweisen Ausnahme der Terrororganisation Al-Qaida – waren terroristische Aktivitäten nur ein Mittel neben anderen und in der Regel nicht das zentrale. Dies ist in allen zentralen Konfliktorten, in denen es auch zu terroristischen Praktiken kam oder kommt – Palästina, Libanon, Irak, Afghanistan – deutlich zu erkennen: In all diesen Fällen bestanden (und bestehen) schwere innenpolitische Krisensituationen mit ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen, die zu beträchtlichem innergesellschaftlichen Konfliktpotential führten – und in all diesen Fällen kamen Faktoren externer Dominanzversuche oder militärischer Besatzung hinzu. Diese Verknüpfung innerer und äußerer Konfliktursachen führte zu einem hohen politischen Mobilisationsniveau, zu zahlreichen und höchst unterschiedlichen politisch-zivilen Aktions- und Widerstandsformen und zu einer Senkung der Gewaltschwelle allgemein. Auf dieser Grundlage kam und kommt es zu sehr verschiedenen Formen von politischer Gewalt, die von spontaner Sachbeschädigung bis zum Bürgerkrieg oder dem bewaffneten Aufstand gegen fremde Besatzer reichen können – und erst in diesem Kontext lässt Terrorismus sich politisch erklären. In der Regel ist Terrorismus demnach ein taktisches Mittel des politischen Kampfes neben anderen. Dies unterstreicht erneut seinen politischen und pragmatischen, nicht primär religiösen Charakter: Entsprängen Gewalt und Terrorismus aus der Kultur oder Religiosität einer Gesellschaft, so wären säkulare Gruppen kaum daran beteiligt und ihr Auftreten wäre relativ stabil – während terroristische Kampagnen sich tatsächlich aufgrund politischer Bedingungen historisch entwickeln. Ein Beispiel dafür sind die Selbstmordanschläge in Afghanistan (die nur dann terroristisch sind, wenn sie sich gegen die Zivilbevölkerung richten, sonst eine Form paramilitärischer Gewalt darstellen). Waren solche Gewaltformen bis vor wenigen Jahren in Afghanistan völlig unbekannt (was bedeutet, dass sie weder aus der afghanischen Kultur noch Religiosität direkt resultieren können), so haben sie sich in den letzten Jahren und in einer Situation fremder Truppenpräsenz und ungelöster innenpolitischer Probleme fast explosionsartig ausgeweitet: Noch im ersten Halbjahr 2005 gab es in Afghanistan lediglich fünf Selbstmordanschläge, im zweiten bereits 16 und in den ersten vier Monaten des Jahres 2006 waren es mindestens 28. Im Gesamtjahr 2006 wurden schließlich 117 Selbstmordanschläge gezählt.

Sehr ähnlich sieht die Situation in Irak und anderswo aus. Politische Gewalt und seine Sonderform des Terrorismus entwickeln sich aus schweren soziopolitischen Krisen heraus, am intensivsten bei einer hinzutretenden militärischen Präsenz fremder Truppen. Sie können deshalb langfristig auch nur bekämpft werden, indem jene Krisensituationen politisch und sozioökonomisch gelöst werden.

 

Warum kann Gewalt terroristisch werden?

Dies vermag allerdings im strengen Sinne nur zu erklären, warum es zu Situationen umfassender politischer Gewalt kommt und nicht, welche Formen diese annimmt. Anders ausgedrückt: Noch bleibt unerklärt, wie, wann und warum das allgemeine Gewaltpotential sich ausgerechnet in terroristischer Form äußert.

Auch diese Frage lässt sich am besten aus den konkreten Kampf- und Widerstandsbedingungen in einem konkreten Konflikt erklären. Sehr selten greifen politische Akteure sofort zu terroristischen Mitteln, da diese besonderen Legitimationsbedarf beanspruchen. Oft (zumindest zuerst) sind diese selbst bei den eigenen Anhängern nicht populär, mit hohem persönlichem Risiko verbunden und können politisch hohe Kosten verursachen. Terroristische Mittel werden – im Unterschied zur politischen Gewalt allgemein – in der Regel aus drei miteinander verbundenen Gründen angewandt. Einmal kommen sie häufiger zum Einsatz, wenn die Akteure gegen einen Gegner in einer schwachen Position sind und beispielsweise keine realistische Möglichkeit besteht, diesem direkt militärisch entgegenzutreten. So wäre ein militärischer Sieg von Aufständischen mit konventionellen Mitteln über Israel in Palästina oder die USA im Irak undenkbar, so dass andere, asymmetrische Gewaltformen die einzige Alternative darstellen. Zweitens bieten terroristische Aktionsformen (also Angriffe gegen Zivilisten) gewisse taktische Vorteile: zivile Ziele sind meist weniger gesichert und leichter angreifbar, weil einerseits selbst unbewaffnet und zugleich so zahlreich, dass auch Militär sie nicht flächendeckend sichern kann. Drittens bietet Terrorismus aus diesem und anderen Gründen (Wirksamkeit auch in kleinen Gruppen, Überraschungsmoment, Erfolgsaussichten auch bei niedrigem technologischen Niveau, etc.) ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis. Anders ausgedrückt: Terrorismus ist – verglichen mit militärischer Gewalt – Personal sparend und kostengünstig, was gerade für militärisch deutlich unterlegene Akteure wichtige Erwägungen sind. All dies gilt in besonderem Maße für (terroristische wie paramilitärische) Selbstmordanschläge, die pro Täter besonders hohe Opferzahlen erreichen können. So weist Cronin darauf hin, dass von 2000 bis 2002 nur ein Prozent aller palästinensischen Anschläge Selbstmordattentate waren, diese aber 44 Prozent der Opfer forderten. Auch die Täterorganisationen sind sich dieser Tatsache bewusst. So formulierte Ayman al-Zawahiri (der Stellvertreter Usama bin Ladins): „Die Notwendigkeit der Konzentration auf Märtyreroperationen ergibt sich, weil sie die erfolgreichste Art sind, dem Gegner zu schaden, und weil sie die geringsten Verluste für die Mujahedin zur Folge haben.”

 

Der islamische Faktor

Das soziale und politische Konflikt- und Gewaltpotential in muslimischen Ländern besteht unabhängig von der lokalen Religiosität, unabhängig vom Islam, wie ja in anderen Weltregionen ähnliche Konfliktursachen ebenfalls zu Gewalt führen. Allerdings ist Gewalt keine einfache oder selbstverständliche Politikoption, sondern bedarf wegen ihres einschneidenden, in den meisten Gesellschaften und Kulturen ethisch unerwünschten oder verbotenen Charakters und wegen der mit ihrer Ausübung verbundenen Gefahr besonderer Legitimierung. Politische Gewalt braucht besondere Rechtfertigung. Und wenn sie auf Verbreiterung und weitere Mobilisierung zielt – was häufig gerade ihre Absicht darstellt – dann gilt dies umso mehr.

An dieser Stelle kann Religiosität ihre besondere Bedeutung erhalten. Die Legitimierung politischer Gewalt enthält meist situative oder kontextabhängige Aspekte (z.B. Rache) und wird vor allem durch systematisierende Nutzung politischer Ideologien dauerhaft und breitenwirksam. Prinzipiell lassen sich verschiedene Ideologien zur Rechtfertigung politischer Gewalt nutzen, sowohl säkularer wie religiöser Art.

Im Westen waren dies häufig nationalistische, kommunistische, früher auch christlich-religiöse Rechtfertigungen, inzwischen gibt es Fälle, in denen Gewaltanwendung und Krieg im Namen des Völkerrechts, der Demokratie oder der Menschenrechte gerechtfertigt werden. Im Nahen und Mittleren Osten wurden ebenfalls nationalistische und sozialistisch/kommunistische Ideologien zur Legitimation von Gewalt missbraucht. So erfolgten noch in den siebziger und achtziger Jahren die meisten Flugzeugentführungen, Attentate oder Bombenanschläge palästinensischer Gruppen mit rein säkularen Begründungen – etwa in einem Kontext des Arabischen Nationalismus oder des Marxismus-Leninismus. Mit der Niederlage der arabischen Länder im Sechs-Tage-Krieg 1967 und der Krise und dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren diese Ideologien allerdings gescheitert und kaum noch legitimativ nutzbar. Im Nahen und Mittleren Osten bestand seitdem ein ideologisches Vakuum, das mangels Alternativen von verschiedenen Varianten des politischen Islam – des Islamismus – gefüllt wurde. Seitdem werden in der Region viele Diskurse zu politischen und sozialen Fragen in religiösen Kategorien geführt.

 

Schlüsselbeispiel: Politik und Religion bei Usama bin Ladin.

Usama bin Ladin und die internationale Terrororganisation Al-Qaida stellen ein besonders dramatisches Beispiel der Vermischung von Gewalt und Islam dar. In gewisser Hinsicht ist Al-Qaida höchst untypisch für gewaltbereite Gruppen von Muslimen. Das technologische Niveau, die internationale Vernetzung, der Planungshorizont, die Operationsweise sowie Struktur und Form ihrer Islaminterpretation unterscheiden die Organisation grundlegend von anderen, auch radikalen Gruppen in der Region, etwa der Hamas oder Hisbollah, mit denen sie wenige Gemeinsamkeiten hat. Trotzdem sind bestimmte Elemente der Gewaltbegründung und ihres Argumentationszusammenhangs höchst illustrativ.

Betrachten wir etwa die berüchtigte Stellungnahme, die Usama bin Ladin und eine Reihe von Extremisten aus Ägypten, Pakistan und Bangladesh im Februar 1998 veröffentlichten, so ergibt sich kurz gefasst folgendes Bild.

Es werden drei substantielle Vorwürfe erhoben:

  • die Besetzung islamischer Länder, insbesondere „der heiligsten aller Orte, der Arabischen Halbinsel“, um deren „Reichtümer zu plündern, ihre Herrscher zu beherrschen“ („dictating to its rulers“), und zu anderen Zwecken durch die US;
  • die Auswirkungen der US-Politik („the Crusader-Zionist alliance“), des Golfkriegs und das bis 2003 andauernde Embargo auf die irakische Zivilbevölkerung „mit mehr als eine Million Toten“;
  • die „Besetzung Jerusalems und die Morde an Muslimen“ durch Israel, sowie die US-amerikanische Unterstützung.

Diese Aufzählung ist ein wichtiges Beispiel für die grenzüberschreitende Mobilisierungskraft symbolischer Regionalkonflikte, um ein unterschwellig vorhandenes Gewaltpotential aufgrund innergesellschaftlicher Konflikte durch die Identifikation mit Opfern fremder Ungerechtigkeit zu mobilisieren und zu fokussieren. Durch die (bezogen auf die externen Gewaltkonflikte) nicht direkt erlebte, sondern politisch vermittelte Erfahrung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit wird ein möglicherweise entstehender Terrorismus trotz seiner unvermeidlichen emotionalen Anteile tendenziell eher „unterkühlt“, berechnend, organisiert und geplant erfolgen – wie das global operierende Netzwerk von Al-Qaida demonstriert. Moderne Zweckrationalität, moderne Infrastruktur und Verfahrensweisen sowie langfristige Vorbereitung von Anschlägen sind Selbstverständlichkeiten, ein entsprechender sozialer Hintergrund der Täter (z.B. Studium) Voraussetzung.

Die drei Zentralpunkte der Gewaltbegründung Usama bin Ladins sind im Kern säkular, wenn dies auch durch eine überladene religiöse Sprache verdeckt wird: die Präsenz von US-Soldaten in Saudi Arabien, die bis 2003 bestehende Sanktionspolitik gegen den Irak mit ihren dramatischen Folgen für die irakische Zivilbevölkerung und die israelische Besetzung palästinensischen Landes und Jerusalems sind zuerst einmal politische, keine religiösen Kritikpunkte. Der erste Satz der Erklärung enthält bereits ein Koranzitat, das Gewalt rechtfertigen soll – um gleich im zweiten Satz die „Kreuzfahrer“ (die USA und ihr Militär) mit „Heuschrecken“ zu vergleichen, die in der Arabischen Halbinsel eingefallen sind. Ausgangspunkt ist also politische Kritik, die allerdings religiös eingebettet wird. Den Autoren solcher Aufrufe und ihrer Zielgruppe sind politische Argumente wichtig, aber nicht genug. Es kommt ihnen darauf an, ihre Kritik zu verobjektivieren, sie nicht selbst, sondern im Namen einer höheren, gar höchsten Autorität zu formulieren: „All diese Verbrechen und Sünden der Amerikaner sind eine klare Kriegserklärung an Gott, seinen Boten (gemeint ist der Prophet Mohammed, JH) und die Muslime.“

Politische Konflikte werden so ideologisiert und religiös überhöht. Bestimmte Politik ist dann nicht nur falsch, sondern auch ein Bruch moralischer Prinzipien und – in einem dritten Schritt – ein Verstoß gegen den Willen und die Gebote Gottes, gegen Gott selbst. Das ändert nichts am politischen Kern der Kritik, aber es soll ihr besonderes Gewicht verleihen, sie aus dem Streit der Menschen in einen Konflikt zwischen Menschen und Gott transformieren und so letztlich der menschlichen Kritik entziehen. Wenn die Politik der USA und Israel wirklich eine „Kriegserklärung an Gott“ wäre, dann wären die „Verteidiger“ Gottes einer Kritik ihrer eigenen Politik und Gewalt weitgehend entzogen. Wenn die Gewalt der Frommen nur den Willen Gottes vollzöge – wie könnten Muslime diese Gewalt dann kritisieren, ohne selbst in Widerspruch zu Gott zu geraten?

Die religiöse Ideologisierung der eigenen politischen Praxis im Allgemeinen – und der eigenen Gewalt bis zum Terrorismus im Besonderen – soll diese der Kritik entziehen und zur moralischen Richtschnur für andere erheben.

Der Text der zitierten Erklärung gipfelt in einem Aufruf zur Gewalt gegen die USA und alle jene, die sie unterstützen:

„Wir rufen – mit Gottes Hilfe – alle Muslime auf, die an Gott glauben und von ihm belohnt werden wollen, Gottes Gebot zu folgen und die Amerikaner zu töten und ihr Geld zu plündern, wo und wann immer sie es finden. Wir fordern alle muslimischen Geistlichen, Führer, Jugendlichen und Soldaten auf, den Angriff auf die satanischen US-Truppen und ihre teuflischen Unterstützer zu beginnen, die mit ihnen verbündet sind, und diejenigen zu stürzen, die hinter ihnen stehen, um ihnen eine Lektion zu erteilen.“

 

Islam als Motivations- und Mobilisierungskraft

Der Islam spielt im Kontext der zahlreichen Konflikte und Gewaltpotentiale der Region eine wichtige Rolle. Allerdings stellt er nicht die Quelle der Gewalt dar, sondern kann die Artikulationsform politischer Kritik und die Legitimationsquelle von – auch gewaltsamem – Widerstand sein. Seine Bedeutung liegt daher nicht darin, Ursache der Gewalt zu sein, sondern in seiner – und der jeder anderen Religion – Fähigkeit, kontextübergreifende Legitimationsmuster bereitzustellen, die große emotionale Überzeugungskraft besitzen, zugleich aber nur schwer zu entkräften sind: Gott kann sich schwer gegen seine Instrumentalisierung zu politischen Zwecken wehren. Die Rolle des Islam besteht deshalb vor allem in der möglichen individuellen und kollektiven zusätzlichen Motivation von Gewalttätern, die dann nicht allein für sich oder ihre Gruppe, sondern „für Gott“ kämpfen – mit entsprechenden, theologiespezifischen Formen der Exkulpierung oder Belohnung (etwa für „Märtyrer“). Sie besteht ebenfalls in ihrem – kontextabhängigen – Mobilisierungspotential, also in der Chance, eine breitere soziale und politische Basis für die eigene Politik und Gewalt zu erreichen, als wenn man diese rein pragmatisch begründen würde. In einer Gesellschaft, deren meisten Mitglieder entweder fromm sind oder so erscheinen möchten, kann „der Islam“ eine politische Integrationsfunktion übernehmen oder anderweitige Legitimationsmuster untergraben – wenn die soziale und politische Realität seine Argumentation untermauert oder plausibel erscheinen lässt. Losgelöst von den sozialen Realitäten ist „der Islam“ politisch nichts – als deren ideologischer Ausdruck, Zuspitzung und Interpretationsrahmen kann er zu einer bedeutenden Macht werden.

Der islamische Diskurs in der Politik vermag darüber hinaus – entsprechende Rahmenbedingungen wieder vorausgesetzt – nicht nur sinnstiftend zu wirken, gerade in verwirrenden und gespannten Situationen. Er kann unter Umständen zu einer gewünschten Polarisierung der gesellschaftlichen und politischen Debatte beitragen: Es geht ja nicht mehr allein um die Lösung bestimmter Sachfragen (für die sehr unterschiedliche Lösungen denkbar sein mögen), sondern um eine Stellungnahme für oder gegen Gott und seine Gebote. Die Reduzierung der politischen Wahlmöglichkeiten auf gut und böse – auch in Washington mit Leidenschaft betrieben – ist das erklärte Ziel vieler gewaltbereiter Gruppen in muslimischen Ländern: Auch Usama bin Ladin zielte mit seinem Terrorangriff vom September 2001 darauf, die (muslimische) Welt zur Wahl zwischen den Kräften des Teufels und des Islam zu zwingen – und dabei selbst letztere verkörpern zu wollen.

Wenn man solchen Gewalttätern nicht in die Hände spielen möchte, sollte man dieses politische Kalkül durchschauen und nicht in die intellektuelle Falle gehen, politische Gewalt und Terrorismus – auch in seiner islamistischen Ausprägung – primär für ein religiöses Phänomen halten. Terrorismus ist vor allem eine politische Waffe und muss politisch analysiert werden. Er entspringt aus realen gesellschaftlichen Konflikten und oft dem zusätzlichen Faktor fremder Dominanzpolitik. Wer religiöse Fragen für zentral halten möchte, wird die Gewalt im Nahen und Mittleren Osten missverstehen und wichtige Mittel aufgeben, sie langfristig zu überwinden.

 

Fußnoten nur in der Druckfassung

 

Quelle:

Jochen Hippler (Hrsg.)
Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten,
Hamburg 2007, S. 161-178

 

 

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