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Jochen Hippler                                                                                 als pdf-Datei

Von der Diktatur zum Bürgerkrieg –
Der Irak seit dem Sturz Saddam Husseins

 

Das heutige Gebiet des Irak gehörte bis zum ersten Weltkrieg zum Osmanischen Reich, wurde dann als Mandatsgebiet von Großbritannien beherrscht und 1932 endgültig unabhängig. Das Land blieb wirtschaftlich und in seinen staatlichen Strukturen schwach und von seinen traditionellen Eliten beherrscht. Als diese 1958 durch einen nationalistischen Militärputsch gestürzt wurden, folgte ein Jahrzehnt politischer Instabilität und häufig wechselnder Regierungen, bis 1968 die Baath-Partei die Macht an sich riss und bis zum Irakkrieg von 2003 nicht mehr abgab. Nach einer kurzen Phase des innenpolitischen Taktierens gelang es dem Baath-Regime in den frühen 1970er Jahren, ihre Diktatur zu konsolidieren. Nach der Verstaatlichung der Ölindustrie und mit Hilfe der massiv steigenden Ölpreise bildete sich ein Herrschaftsmodell heraus, das Zentralisierung, brutale Repression, wirtschaftliche Entwicklung und aktive Sozialpolitik miteinander verband. Diese Verbindung von sozio-ökonomischen Wohltaten und politischer Unterdrückung sorgte im Irak zum ersten Mal seit Jahrzehnten für politische Stabilität und einen starken Staatsapparat – bis die beiden ersten Golfkriege (1980-88 gegen Iran; 1991 gegen eine von den USA geführte Koalition wegen der irakischen Besetzung Kuwaits) und die UNO-Wirtschaftssanktionen (1990 bis 2003) die irakische Wirtschaft zerrütteten und die irakische Bevölkerung verarmen ließen. Von den beiden Säulen der Machtsicherung blieb zunehmend nur die Repression übrig. Dreieinhalb Jahrzehnte einer brutalen Diktatur hatten die irakische Gesellschaft so geschwächt, dass sie ein bloßes Objekt der staatlichen Macht war. Jede Form von unabhängiger oder oppositioneller Meinung war nur im Exil möglich - im Inland bedeutete sie langjährige Haft, Folter und Ermordung. Einem übermächtigen, diktatorisch verfassten Staatsapparat stand eine demoralisierte, individualisierte, traumatisierte, passive und eingeschüchterte Gesellschaft gegenüber, die sich fast nur noch um die Sicherung des täglichen Lebens kümmern konnte. Die Diktatur hatte zwar alle Teile der irakischen Bevölkerung unterdrückt, aber doch in unterschiedlichem Ausmaß: Während Kurden und Schiiten aufgrund ihrer Versuche unabhängiger Politik mit Gewalt in teilweise völkermörderischem Ausmaß niedergehalten wurden, war die Lage der sunnitischen Araber komplizierter: Auch bei ihnen war jeder Versuch oppositioneller Betätigung lebensgefährlich; einige Sektoren der sunnitischen Araber konnten sich jedoch durch Mitläufertum oder politische Abstinenz profitable Nischen in der Diktatur sichern. In diesem Sinne boten sich den sunnitischen Arabern zumindest Positionsvorteile gegenüber den nationalen Minderheiten (Kurden, Turkmenen) und der schiitischen Bevölkerungsmehrheit.

Als das US-Militär Saddam Hussein 2003 stürzte, steckte die irakische Gesellschaft bereits in einer tiefen Krise, die durch die Besatzungssituation bald noch verstärkt wurde. Zu den Ausgangsbedingungen der Nachkriegsentwicklung gehörten darüber hinaus, dass sich der Staatsapparat bei Kriegsende in wenigen Tagen praktisch verflüchtigt hatte und seine Reste bald von der US-Besatzung zerschlagen wurden, so dass Regierungs- und Governance-Strukturen nach dem Kriegsende 2003 fast völlig fehlten.

 

Notwendigkeiten des Wiederaufbaus

Die wichtigsten Aufgaben des Wiederaufbaus können kurz so zusammengefasst werden:

  • die Gewährleistung von Sicherheit, nicht allein für die zuerst kaum gefährdeten eigenen Truppen, sondern vor allem für die irakische Bevölkerung, die sofort von den umfangreichen Plünderungen und ausufernder Gewaltkriminalität betroffen war;
  • die Wiederherstellung von im Krieg zerstörter Infrastruktur und daran anknüpfend die Gewährleistung einer Grundversorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser, Abwasserentsorgung, Elektrizität, medizinischen Diensten und ähnlichem;
  • die Etablierung einer funktionierenden Volkswirtschaft, die bereits vor dem Krieg in Trümmern gelegen hatte. Diese Aufgabe ging über die Beseitigung der Kriegsschäden weit hinaus, und beinhaltete nicht allein technische Maßnahmen, wie beispielsweise die gründliche Instandsetzung und Modernisierung der Ölindustrie und die Reparatur lange verfallener Fabriken, sondern auch wirtschaftliche Reformen und Strukturveränderungen sowie die Überwindung von Unterbeschäftigung und Massenarbeitslosigkeit, die mittelfristig über die Bereitschaft der Bevölkerung mitentscheiden würden, sich am Aufbau eines US-dominierten Iraks zu beteiligen;
  • Maßnahmen zur Verhinderung einer Entfremdung der verschiedenen ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen voneinander, die sonst potenziell zu Gewalt führen könnte;
  • der schrittweise Aufbau eines neuen, demokratischen politischen Systems, das sowohl Stabilität als auch eine Partizipation der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gewährleisten könnte. Dies musste den Wiederaufbau eines funktionierenden Staatsapparates einbeziehen.

Dieses Bündel von Aufgaben war höchst anspruchsvoll und ging über ein kurzfristiges Notfall-Management weit hinaus. Es beinhaltete nicht allein kurzfristige Wiederaufbaumaßnahmen, sondern vieles, das man unter dem Begriff „Nation-Building“ zusammenfassen könnte – ein Konzept, dem die Bush- Administration ideologisch deutlich ablehnend gegenüberstand. Deshalb dürfte die Vernachlässigung solcher Fragen nicht allein an innerbürokratischen Streitigkeiten, sondern auch an falschen politischen Prioritäten und ideologischen Scheuklappen gelegen haben. Diese umfassende und Nation-Building einbeziehende Aufgabenstellung im Nachkriegsirak war keine willkürlich definierte, sondern eine funktional unabweisbare: Ohne eine Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse - und eines darüber hinausgehenden Lebensstandards sowie einer funktionierenden Volkswirtschaft - würden die Sympathien der irakischen Bevölkerung weder für die Besatzungstruppen oder die Zivilverwaltung noch für eine einzusetzende irakische Regierung gewonnen werden können.

 

Der politische Prozess

Die politische Situation beim Sturz Saddam Husseins war von einer ausgeprägten Schwäche der irakischen Gesellschaft, einem fast völligen Fehlen zivilgesellschaftlicher Organisationen und in der Bevölkerung verankerter Parteien geprägt. Die USA hatten geplant, den irakischen Staatsapparat in Besitz zu nehmen, in einem zweiten Schritt von den Einflüssen und dem Personal der Baath-Partei zu befreien („De-Baathisierung“), zugleich oder kurz danach neues Führungspersonal an die Macht zu bringen (z.B. um den US-Favoriten Ahmed Chalabi) und schließlich dieser neuen politischen Konstellation schrittweise und kontrolliert eine politische Basis zu verschaffen und sie zu legitimieren (etwa durch Wahlmechanismen). Dieses Konzept erwies sich als wenig tragfähig, da es zentrale Elemente der irakischen Nachkriegsrealität außer Acht ließ. Einmal gab es keinen irakischen Staat mehr, den man hätte übernehmen können, da er sich in den letzten Kriegstagen faktisch aufgelöst hatte. Zweitens tendierte die weit reichende De-Baathisierungspolitik dazu, die Reste des Staates auch noch zu liquidieren, und drittens wurde sehr schnell klar, dass das von Washington favorisierte Personal über praktisch keine Basis im Land verfügte und auf beträchtliches Misstrauen traf. Damit operierten die US-Besatzungsorgane ohne eine tragfähige konzeptionelle und politische Grundlage und waren darauf angewiesen, sich per trial-and-error einen Weg zu suchen.

Da die ursprünglich geplante schnelle Machtübergabe an ein entbaathisiertes Regime nicht mehr infrage kam, stellte sich der Chef der US-Zivilverwaltungsbehörde, Paul Bremer, auf eine aktivere Rolle im Irak ein. Damit allerdings wurden einerseits die Kompetenz, Vertrautheit mit dem Land, die Vorbereitung und Implementationsfähigkeit der US-Behörden und des US-Militärs im Irak zu entscheidenden Variablen, vor allem aber die Kooperation der US-Instanzen mit irakischen Akteuren und die Transformation US-amerikanischer Politik in irakische Politikstrukturen. Zugleich stieg damit das politische Risiko Washingtons beträchtlich, da nun ein Erfolg oder Scheitern des Wiederaufbaus im Irak nicht irakischen Politikern, sondern den USA selbst angerechnet würden.

Selbst bei einer aktiven, kompetenten und zielgerichteten US-Politik wären die USA auf kooperationsbereite und kooperationsfähige irakische gesellschaftliche Strukturen angewiesen, da sie das Land nicht vollständig selbst regieren konnten. Solche Strukturen waren zuerst allerdings stark unterentwickelt bzw. kaum vorhanden.

Deshalb stand Washington vor einem schwierigen Dilemma: Landesweit in der Gesellschaft verankerte politische Parteien bestanden nicht, insbesondere kaum säkularer Ausprägung. In der kurdischen Autonomiezone existierten zwar in der KDP und der PUK pro-amerikanische, relevante Parteien von regionalem Zuschnitt, im Rest des Landes gab es allerdings bei den sunnitischen Arabern kaum mehr als die Reste der nun zerschlagenen Baath-Partei, bei den schiitischen Arabern fast nur die beiden islamistischen Parteien Dawa und SCIRI, die im iranischen Exil überlebt hatten und Washington deshalb suspekt waren. Diese Parteien verfügten nicht nur über organisatorische Strukturen und Finanzmittel (wobei die beiden schiitischen Parteien sich informeller Netzwerke um die Moscheen bedienen konnten und die PUK und KDP die beiden kurdischen Regionalregierungen kontrollierten), sondern sogar eigene militärische bzw. paramilitärische Einheiten, was ihnen insgesamt einen beträchtlichen Vorsprung gegenüber den von Saddam praktisch zerschlagenen anderen politischen Kräften verschaffte, insbesondere den säkularen arabischen.

Wegen des Fehlens im ganzen Land verankerter säkularer, nicht ethnischer Parteien neigte Washington dazu, zunehmend in ethnischen oder ethno-religiösen Kategorien zu denken. Es war offensichtlich, dass eine schrittweise Machtübertragung an irakische Akteure gerade angesichts der Heterogenität der irakischen Bevölkerung sich diese in ihrer ganzen Breite beim neuen Führungspersonal widerspiegeln musste. Da es aber eben keine relevanten überethnischen und überkonfessionellen Parteien und Organisationen gab, geriet immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dass nun „die Schiiten“, „die Sunniten“, Kurden, Christen und Turkmenen angemessen repräsentiert werden mussten – was das ethnische und konfessionelle Denken stärkte und diejenigen politischen Kräfte bevorzugte, die sich selbst ethnisch oder konfessionell definierten. Wer den Eindruck erwecken konnte, für „die“ Schiiten oder Sunniten sprechen zu können (oder zumindest einen relevanten Teil), wurde mit Machtbeteiligung belohnt, was eine Prämie darauf bedeutete, sich als besonders „schiitisch“ oder „sunnitisch“ zu präsentieren und die gesellschaftlichen Diskurse von einer staatsbürgerlichen Gleichheit auf die inner-konfessionellen Auseinandersetzungen verschob. Dies war alles andere als selbstverständlich. Noch im November 2006 erklärten bei einer Umfrage 69,5 Prozent von 2000 Befragten (überwiegend im Großraum Bagdad und den Provinzen Anbar und Nadjaf), dass sie sich vor allem als Iraker betrachteten, 15,2 Prozent sich vor allem über ihre islamische Religion definierten, und nur 4,5 Prozent stellten ihre sunnitische bzw. schiitische Konfessionszugehörigkeit in den Mittelpunkt ihrer Identität. Die Ethnisierung und Konfessionalisierung des Irak war also keine Selbstverständlichkeit, sondern wurde erst politisch hergestellt.

Erst dadurch konnten die beiden islamistischen schiitischen Parteien den zentralen Platz im politischen System einnehmen, während jenseits von ihnen unter der Führung des Predigers Muqtadar Sadr eine extremistische Konkurrenz entstand, die sie an religiösem Eifer noch zu übertreffen vorgab. Letztlich kam es dadurch zu einer politischen Konstellation, in der die säkularen kurdischen Parteien (also ethnisch-nationale Organisationen, die der arabischen Bevölkerung verschlossen blieben) und die religiösen schiitischen eine informelle Allianz eingingen, um die sunnitischen Araber – die ohnehin politisch geschwächt und fragmentiert blieben – von der Macht fernzuhalten. Da überkonfessionelle Alternativen schwach waren oder fehlten, konnten die Wahlen diesen Zustand nur noch verstärken. Die Stärkung ethnischer Identitäten führte im Norden sogar dazu, die Perspektive einer kurdischen Abspaltung und Unabhängigkeit auf die Tagesordnung zu setzen.

Eine Sonderrolle in der politischen Entwicklung nahmen die arabischen Sunniten ein. Nach dem Sturz der Diktatur befanden sich diese in einer prekären Situation: Im Gegensatz zu den Kurden und Schiiten politisch außerhalb der gestürzten Baath-Partei kaum organisiert, mit geringen Verbindungen zu und kaum Einfluss bei den Besatzern und ohne politische Perspektive für die Zukunft des Irak, waren sie politisch nicht handlungsfähig und begaben sich selbst ins politische Abseits. Als die kurdischen und schiitischen Parteien bald zu einer informellen Zusammenarbeit gelangten, um das Land vom Einfluss der Baathisten zu befreien und den der Sunniten zu begrenzen, zogen sich diese zu großen Teilen aus dem politischen Prozess zurück, um erst 2005 teilweise zurückzukehren. Aus ihren Reihen entstanden ab Sommer 2003 verschiedene, auch gewaltsame Widerstandsformen, die durch zum Teil brutale Repression seitens der US-Truppen (etwa der weitgehenden Zerstörung der Stadt Falludscha im November 2004) noch angeheizt wurden.

Damit wurde die Re-Integration der sunnitischen Araber zu einer Schlüsselfrage der politischen Entwicklung des Irak: Zwar handelt es sich bei ihnen nur um etwa 20 Prozent der Bevölkerung, allerdings mit überdurchschnittlich hohem sozialen und ökonomischen Status und einer Tradition politischer Dominanz. Sie verfügten durchaus über das Potenzial, den politischen Prozess wesentlich zu belasten oder gar zum Scheitern zu bringen.

Auf der einen Seite geriet der Irak so nach dem offiziellen Kriegsende in die Abhängigkeit von den US-Besatzungsbehörden und dem US-Militär, die sich beide dieser Situation nicht einmal annähernd gewachsen zeigten, und in eine Ethnisierung und Konfessionalisierung der Innenpolitik, die ihrerseits eine Lösung der akuten Probleme erschwerten, die Einheit des Landes infragestellten und in einen Bürgerkrieg führten.

In einem solchen Rahmen leitete Washington den schrittweisen Prozess der Einbeziehung irakischer Politiker in die Verwaltung des Landes ein, der schließlich in der Regierungsübergabe an diese und einem Verfassungs- und Wahlprozess mündete. Im Juni 2004 wurde die US-Zivilverwaltung aufgelöst und durch eine provisorische, von Washington eingesetzte Regierung ersetzt, Ende Januar 2005 eine provisorische irakische Nationalversammlung gewählt, die im April den kurdischen Parteiführer Jalal Talabani zum Staatspräsidenten wählte. Im Oktober 2005 fand eine Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf statt, und im Dezember 2005 kam es auf dieser Grundlage zur Wahl eines Parlaments, das im März 2006 die Provisorische Nationalversammlung ablöste. Im Mai 2006 wurde der vom Parlament gewählte Nouri al-Maliki von der schiitisch-islamistischen Dawa-Partei Regierungschef.

 

Die wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung

Im Bereich des wirtschaftlichen Wideraufbaus und der Entwicklung stand der Irak noch 2006 und 2007 vor weit größeren Schwierigkeiten, als die meisten Beobachter – und die US-Regierung – dies direkt nach dem Sturz Saddam Husseins erwartet hatten. Insgesamt ergibt sich eine ausgesprochen widersprüchliche Bilanz, in der die Probleme überwiegen.

Einerseits gelang im Oktober 2003 eine erfolgreiche Währungsreform. Der neue irakische Dinar hat sich bisher als durchaus stabil erwiesen, was als Erfolg verbucht werden kann. Auch die Aufhebung der UNO-Wirtschaftssanktionen stellte eine wirtschaftliche Entlastung dar. Außerdem gelang es durch beträchtliche Transferzahlungen aus dem Ausland (US- und internationale Unterstützung), das Konsumniveau für größere Sektoren der Bevölkerung zu heben, was vor allem durch Lohn- und Gehaltserhöhungen relativ schnell erreicht wurde. Darüber hinaus waren Anfang 2006 fast 120.000 Iraker bei US-Einrichtungen beschäftigt, im November 2006 noch 108.000. Die Arbeitslosenrate 2006 lag trotzdem weiter bei geschätzten 25 bis 40 Prozent. Das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf war von 2002 auf 2003 kriegsbedingt von 802 auf 518 US-Dollar gesunken, wobei auch die Vorkriegszahl aufgrund von mehr als einem Jahrzehnt der internationalen Wirtschaftssanktionen und Misswirtschaft bereits katastrophal niedrig war. 2004 erreichte das BSP pro Kopf 942 Dollar, 2005 vermutlich 1.051 Dollar. Auch wenn man den niedrigen Ausgangspunkt und Inflationsraten von 20 bis über 30 Prozent berücksichtigt (vom Oktober 2005 bis Oktober 2006 sogar offiziell 53 Prozent), so ist doch eine positive Tendenz erkennbar. Allerdings bleibt das Pro-Kopf-BSP sowohl absolut, erst recht aber im Vergleich mit den Nachbar- oder anderen Ölländern schockierend gering – insbesondere, wenn man eine Reduzierung des Wachstums im Jahr 2005 und 2006 auf etwa vier Prozent berücksichtigt. Insgesamt muss festgestellt werden, dass ein selbsttragender Wirtschaftsaufschwung noch nicht in Sicht ist. Dafür gibt es mindestens vier Gründe:

  • Einmal erwies sich die Wirtschaftspolitik im ersten Jahr nach dem Sturz Saddams durch die CPA als höchst improvisiert, sogar hilflos. Sie pendelte zwischen ideologisch bedingten Versuchen, durch radikale Liberalisierung und Privatisierung und die Freisetzung der Marktkräfte die irakische Ökonomie umzugestalten (was auch völkerrechtlich fragwürdig ist, da dies nicht in die Kompetenz von Besatzungsmächten fällt) und einem pragmatischen trial-and-error, so dass keine wirtschaftspolitische Linie erkennbar wurde.
  • Zweitens fehlten einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung entscheidende infrastrukturelle Voraussetzungen: Ohne zuverlässige Strom- und Wasserversorgung kann eine Ökonomie sich kaum dynamisch entfalten. Und die Infrastruktur blieb katastrophal schlecht. Selbst 2005 gab es im Land durchschnittlich nur 9,3 Stunden elektrischen Strom pro Tag, in Bagdad gar nur 5,1 Stunden pro Tag. Im letzten Quartal 2006 lag die tägliche Stromversorgung in der Hauptstadt noch bei unter sieben Stunden, um Anfang 2007 auf nur noch 4,3 Stunden abzusinken. Es ist offensichtlich, dass ein erfolgreicher Wirtschaftsaufbau unter solchen Bedingungen nicht möglich ist.
  • Drittens stellte die Sicherheitslage eine schwere Belastung der ökonomischen Entwicklung dar: Ausländische Firmen zögerten, sich am Wiederaufbau zu beteiligen oder sahen sich gezwungen, ihre Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus dem Irak abzuziehen, und die Kosten von Sicherheitsmaßnahmen von Projekten konnten sich durchaus im Bereich von 20 bis 30 Prozent der gesamten Projektkosten bewegen. Zusätzlich kam es immer wieder zu Anschlägen und Sabotage gegen wirtschaftliche Projekte oder die Infrastruktur. Beim ständig zunehmenden Gewaltniveau ist wirtschaftliche Entwicklung im Irak kaum Erfolg versprechend.
  • Und viertens gelang der Wiederaufbau des Ölsektors, insbesondere der Ölexporte nur sehr ungenügend, wozu auch die Anschläge maßgeblich beitrugen. Zwar wurde das – bereits geringe – Vorkriegsniveau der Ölproduktion von 2,5 Millionen barrel pro Tag im Herbst 2004 kurzzeitig wieder erreicht, womit man dem Ziel einer Förderung von drei Millionen barrel für Ende 2004 näher zu kommen schien. Aber aufgrund der zunehmenden Anschläge und Sabotageakte lag die durchschnittliche Förderung im Jahr 2005 bei durchschnittlich nur 1,83 Millionen barrel, ging also gegenüber dem Jahresende 2004 deutlich zurück. Am Jahresende 2006 wurden rund 2,1 Millionen barrel produziert, zu Beginn des Jahres 2007 lag die Produktion noch etwas niedriger. Besonders schwer wurde der Export getroffen: Die Schwierigkeiten bei der Ölproduktion und vor allem dem Export wurden zwar zum Teil durch hohe Ölpreise kompensiert, stellten aber insgesamt eine schwere Belastung der gesamten Wirtschaftsentwicklung und der staatlichen Finanzen dar, da der Irak wirtschaftlich fast völlig vom Ölsektor abhängig ist. Insgesamt lag der Rohölexport zur Jahreswende 2006/2007 nur bei knapp 1,5 Millionen barrel.

Einige dieser Daten lassen bereits Rückschlüsse auf die Lebenssituation der Bevölkerung zu. Eine geschätzte Arbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent ist angesichts der schwierigen Wirtschaftslage nicht überraschend, trifft aber große Teile der Bevölkerung hart. Auch die katastrophal schlechte Stromversorgung stellt nicht allein ein Problem der irakischen Ökonomie dar, sondern auch der Lebensbedingungen. Ohne Strom funktionieren keine Hausgeräte, weder Beleuchtung noch Radios, und offensichtlich auch keine Kühlschränke, keine Ventilatoren oder Wasserpumpen – und das bei sommerlichen Temperaturen von deutlich über 50 Grad. In einem klassischen Ölland wie dem Irak müssen Autofahrer lange Zeit damit verbringen, an Tankstellen für Benzin anzustehen: Manche Angaben sprechen von durchschnittlichen Wartezeiten von einer Stunde an Tankstellen – nach anderen Quellen warten 28 Prozent der Kunden ein bis sechs Stunden, 19 Prozent länger als sechs Stunden, um ihrem Auto den Tank füllen zu lassen. Und während vor dem Krieg noch 12,9 Millionen Iraker Zugang zu sauberem Trinkwasser hatten, waren es im März 2006 nur noch 7,9 Millionen, nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums im November gar nur 5,2 Millionen – immerhin eine Million mehr als drei Monate zuvor. Je nach Provinz sind 14,2 bis 26,5 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Die medizinische Versorgung ist extrem schlecht, und da seit Kriegsende mehr als ein Drittel aller Ärzte das Land verließ, ist hier Besserung nicht in Sicht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass die Zahl der innerhalb des Iraks Vertriebenen im Laufe des Jahres 2007 von 1,7 auf 2,3 Millionen steigen wird – zusätzlich zu den ca. zwei Millionen Einwohnern, die ins Ausland geflohen sind – bei rund 27 Millionen Einwohnern auch das kein Hinweis für gute Lebensbedingungen im Inland.

Ein wichtiger Faktor, der das Leben der Menschen im Irak schwer beeinträchtigt, ist natürlich die Sicherheitslage, insbesondere die Gewaltkriminalität gegenüber der Zivilbevölkerung. Direkt nach dem Sturz Saddam Husseins kam es im größten Teil des Irak (Ausnahme: die kurdische Autonomiezone) zu einer dramatischen und umfassenden Welle der Plünderungen, die trotz des Fehlens von irakischen Sicherheitskräften von den Besatzungstruppen ignoriert wurde. Dabei wurden nicht allein Möbel, medizinische Geräte, Waffen und Kulturgüter, sondern auch wirtschaftsstrategisch wichtige Güter wie Öl und sogar die Kabel von Überlandstromleitungen gestohlen. Diese Plünderungen waren nicht allein wirtschaftlich katastrophal, sondern hatten eine große psychologische und symbolische Bedeutung, da sie dramatisch demonstrierten, dass die öffentliche Ordnung völlig zusammengebrochen war und organisierte Kriminalität sich lohnte und straflos blieb. Es kam zur massiven Ausweitung der Gewaltkriminalität, insbesondere in den Bereichen Raub, Körperverletzung, Entführungen, Vergewaltigung und Mord. Sind solche kriminellen organisatorischen Strukturen erst einmal in der Abwesenheit staatlicher Sicherheitsbehörden entstanden, sind sie nicht leicht zurückzudrängen. Das Ergebnis bestand in einer beträchtlichen Unsicherheit im Alltagsleben der Bevölkerung, die sich teilweise selbst bei Tätigkeiten wie Einkaufen oder kurzen Fahrten innerhalb der eigenen Stadt bedroht fühlen musste. So kam es nach dem Krieg bis zum Februar 2006 zu insgesamt 268 Entführungen von Ausländern, während Ende 2005 pro Tag bis zu 30 Iraker entführt wurden.

 

Auswirkungen auf die politische Psychologie

Direkt nach dem Krieg von 2003 gab es für einige Monate beim größten Teil der irakischen Bevölkerung – außer bei den kurdischen Gesellschaftssektoren – eine ausgeprägt ambivalente Stimmung. Einerseits bestand eine große Freude und Erleichterung über den Sturz der Diktatur Saddam Husseins (durchaus auch bei den meisten sunnitischen Arabern), zugleich ein beträchtliches Misstrauen den USA und ihren Besatzungstruppen gegenüber. Man misstraute dem uneigennützigen Charakter der USA, unterstellte diesen, vor allem am irakischen Öl interessiert zu sein – war allerdings Washington dankbar, die Diktatur gestürzt zu haben. Zugleich erwartete die Bevölkerung nach dem Sturz Saddam Husseins eine schnelle und drastische Verbesserung ihrer unzumutbaren Lebensbedingungen. Eine Enttäuschung dieser Erwartungen würde politisch hohe Kosten verursachen. Ähnliches galt für die Aufgabe, dem Auseinanderleben der verschiedenen ethno-religiösen Gruppen vorzubeugen und ein integratives und partizipatives politisches System zu errichten.

In diesem Zusammenhang eröffneten sich den USA eine Chance und eine politische Gefahr: Wenn es ihnen gelungen wäre, den Erwartungen der irakischen Bevölkerung gerecht zu werden und schnell die Sicherheit der Bürger einigermaßen zu gewährleisten, die Infrastruktur wiederaufzubauen und die wirtschaftliche Situation zu verbessern, hätte sich die politische Lage im Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit stabilisiert und die bestehende Ambivalenz zugunsten der USA aufgelöst.

Allerdings erwiesen sich die US-Besatzungstruppen und die Zivilverwaltung unter Paul Bremer in dieser Hinsicht als völlig unvorbereitet, z.T. wenig engagiert (etwa bezüglich einer Verhinderung der Plünderung von Museen, Krankenhäusern und anderer Einrichtungen) und inkompetent. Deshalb begann sich innerhalb von 6-12 Monaten das Klima im Land zu verschieben und gegen die USA zu wenden – erneut mit Ausnahme der kurdischen Autonomiezone. Die Dankbarkeit wegen der Befreiung von der Diktatur wurde im Lauf der Zeit in den Hintergrund gedrängt, während der Ärger über das explosive Wachstum der Gewaltkriminalität und das weitgehende Scheitern des Wiederaufbaus immer mehr zunahm. Bald wurden sogar viele Bombenanschläge den USA zur Last gelegt, die so angeblich Unsicherheit schüren und sich im Irak unentbehrlich machen wollten.

Damit hatte die Besatzungsmacht eine unwiederbringliche Chance verspielt: Hätten die US-Behörden und ihre Streitkräfte nach dem Sturz Saddam Husseins schnell so grundlegende Dinge wie die Strom- und Wasserversorgung, Abwassersysteme, die medizinische Versorgung, andere Bereiche der Infrastruktur und die Sicherheit der Bevölkerung vor Plünderungen und Gewaltkriminalität gewährleistet und dazu die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung spürbar verbessert (etwa bezogen auf die Arbeitslosigkeit), dann hätten sie für ihr politisches Projekt eine breite Basis im Irak gewinnen können. Wäre die Dankbarkeit der irakischen Bevölkerung für ihre Befreiung von der Diktatur durch eine schnelle Verbesserung der Lebensbedingungen im Irak mit einer wachsenden Zufriedenheit mit der Nachkriegsentwicklung verbunden worden, dann hätten Aufständische oder externe Jihadisten kaum eine Chance gehabt, im Irak eine soziale Basis zu gewinnen. Da allerdings genau diese Chance verspielt wurde und die Besatzungspolitik die konkreten Lebensbedingungen der Bevölkerung grundlegend vernachlässigte, schlug die zu Beginn offene Ausgangssituation zunehmend in eine anti-amerikanische Stimmung um. Dies lässt sich unter anderem an einigen Meinungsumfragen ablesen. Im Jahr 2006 lag sogar der Anteil der kurdischen Bevölkerung, die gewaltsame Angriffe auf US-Truppen begrüßten, bei immerhin 15 bis 16 Prozent. Bei schiitischen Arabern war der Anteil der Befürworter von Gewalt gegen US-Truppen von Januar bis September 2006 von 41 auf 62 Prozent gestiegen, bei den Sunniten von 88 auf 92 Prozent.

Und während im April 2005 noch 71 Prozent der Bevölkerung angaben, sie würden in sechs Monaten eine „bessere“ oder „viel bessere“ Lage im Land erwarten, lag der Anteil im Juni 2006 nur noch bei 32 Prozent. 90 bzw. 94 Prozent der schiitischen bzw. sunnitischen Befragten verlangten einen Zeitplan für den Abzug der US-Truppen.

 

Der Weg in den Bürgerkrieg

Im Jahr 2005 nahm die Zahl der Anschläge und Sabotageakte durch Aufständische deutlich zu. Ihre Summe erhöhte sich von rund 26.500 im Jahr 2004 auf über 34.000 in 2005. Dabei kam es zu einem leichten Sinken der Zahl der getöteten US-Soldaten (von 714 auf 673), während sich die Verluste der irakischen Sicherheitskräfte deutlich erhöhten. Dies dürfte an zwei Entwicklungen gelegen haben: Einmal operierten die US-Truppen 2005 zurückhaltender als im Vorjahr (so gab es z.B. keine große Militäroperation gegen eine Stadt, wie in Falludscha im November 2004, mit relativ hohen eigenen Opferzahlen) und das US-Militär bemühte sich, die Aufrechterhaltung der Sicherheit zunehmend auf irakische Einheiten zu übertragen. Darüber hinaus scheinen die Aufständischen ihre Angriffe verstärkt auf die irakischen Sicherheitskräfte zu verlagern, da diese leichter zu treffen sind. Im Gegensatz zu den Angaben über US-Verluste sind Zahlen über irakische allerdings kaum vorhanden und unsicher, da die irakische Regierung sie selten oder nur bruchstückhaft veröffentlicht. Die US-Regierung stellte allerdings fest, dass zwar 80 Prozent aller Angriffe auf Ziele der „Multinationalen Koalition“ (also die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten) erfolgten, 80 Prozent aller Opfer aber irakisch seien. 2006 kam es zu einer weiteren Eskalation: allein vom Sommer bis zum Herbst nahmen die bewaffneten Angriffe um 22 Prozent zu, von denen sich noch 68 Prozent gegen die ausländischen Truppen richteten. Deren Verluste nahmen um ein knappes Drittel zu, während die Opfer unter der Zivilbevölkerung um rund 60 Prozent über denen des Jahresbeginns lagen. Solche Opfer- und Verlustzahlen sollten nicht als präzise Angaben, sondern eher als Annäherungen aufgefasst werden, insbesondere was die der Zivilbevölkerung betrifft. Teilweise sind die tatsächlichen Opferzahlen in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen schwer oder gar nicht zu ermitteln, teilweise besteht die Tendenz, sie aus politischen Gründen zu übertreiben oder zu verharmlosen. Nehmen wir allerdings die aktuellen Ziffern der UNO-Mission im Irak, dann fielen im Verlauf des Jahres 2006 fast 34.500 Zivilisten der Gewalt zum Opfer, zusätzlich wurden fast 37.000 Zivilisten verletzt. Damit dürfte auch geklärt sein, dass es sich im Irak nicht nur um „Unruhen“ oder einen „gewaltsamen Konflikt“ handelt, wie immer noch gelegentlich verharmlosend behauptet wird, sondern tatsächlich um die Kombination eines Aufstands gegen fremde Truppen mit einem Bürgerkrieg.

Die US-Regierung neigt dazu, die Gewalt im Irak entweder „Mördern“ zuzuschreiben, die „kein Gewissen“ hätten, oder aus dem Ausland eingesickerte islamistische Fanatiker und Terroristen verantwortlich zu machen, so Präsident Bush noch im Januar 2007. Auch wenn sich in dieser Sache seit 2003 gewisse Akzentverschiebungen erkennen lassen – so wurden zu Beginn der Auseinandersetzungen häufig Anhänger des gestürzten Präsidenten Saddam Hussein für die Gewalt verantwortlich gemacht, auch sind die US-Militärs vor Ort in der Regel pragmatischer in ihren Analysen – so betrachtet die US-Regierung die Gewalt im Irak noch immer primär unter rein sicherheitspolitischen Gesichtspunkten, die auch mit den Zwangsmitteln klassischer Sicherheitspolitik bekämpft werden müssten. In diesem Sinne formulierte Präsident Bush in seiner Rede zu einer „neuen Irakstrategie“ (die allerdings keinerlei neue Strategie, höchstens kleinere taktische Änderungen mit sich brachte): „Unsere früheren Versuche der Sicherung Bagdads scheiterten aus zwei Gründen: Es gab nicht genug irakische und amerikanische Soldaten, um die Stadtviertel zu sichern, die wir von Terroristen und Aufständischen befreit hatten. Und es gab zu viele Einschränkungen für die Truppen, die wir dort hatten.“

Auch wenn es immer wieder Verweise darauf gibt, dass Sicherheit nicht durch militärische und polizeiliche Maßnahmen allein erreicht werden kann, liegt der US-amerikanischen Politik doch eine deutliche Betonung militärischen Zwangs und Kontrolle zugrunde. Damit wird der Konflikt im Irak allerdings gründlich missverstanden – es handelt sich vor allem um eine politische Auseinandersetzung, die ursprünglich aus der Besatzungssituation erwuchs, dann durch die breite Unzufriedenheit mit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation reichlich Nahrung erhielt und schließlich zusätzlich noch die Dimension eines innerirakischen Machtkampfes (bis zum Bürgerkrieg) annahm. Eingesickerte ausländische Terroristen mit islamistischem Hintergrund fügten eine weitere Konfliktdimension hinzu. Gewalt ist in diesem Zusammenhang zwar ein wichtiger Aspekt, aber – von den Anschlägen der ausländischen Jihadisten abgesehen - vor allem die Folge der gesellschaftlichen und politischen Lage, nicht allein deren Ursache.

Um die Sicherheitslage (hier im politischen Sinne, nicht auf die Gewaltkriminalität bezogen) zu verstehen ist es hilfreich, mehrere Konfliktlinien zu trennen, die sich im Irak überlappen:

  • Sunnitische Gewalt im Rahmen eines Aufstandes gegen die US-Truppen und ihre internationalen und irakischen Partner. Diese erfolgt vor allem in der Provinz Anbar und im Großraum Bagdad. Die Hauptakteure sind sehr überwiegend arabisch-sunnitische irakische Aufständische mit politischer Verankerung in ihren jeweiligen Regionen, die die ausländische Präsenz und die politische Entwicklung nach dem Sturz Saddam Husseins bekämpfen.
  • Kompliziert wird die Lage dadurch, dass Gruppen ausländischer, sunnitisch-islamistischer und meist terroristisch operierender Akteure eingesickert sind und eine eigenständige Politik betreiben. Dabei handelt es sich nicht um einen innergesellschaftlichen Aufstand, sondern um eine Terrorkampagne mit regionaler Dimension, die den Irak zu anderen Zwecken nutzt. Allerdings dürften diese Gruppen (vor allem Al-Qaida in Mesopotamien) nur etwa 5 Prozent der sunnitischen Kämpfer ausmachen. Seit 2005 kam es zunehmend zu auch bewaffneten Konflikten zwischen internen Aufständischen und internationalen Jihadisten.
  • Ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, die ursprünglich von den eingesickerter Jihadisten ausgelöst wurden, die einerseits Schiiten aus ideologischen Gründen bekämpfen, zugleich aber einen Bürgerkrieg zwischen beiden Gruppen provozieren wollten, um den Irak unregierbar zu machen und ihre Position in der sunnitischen Gemeinschaft zu stärken. Ein Schlüsselereignis dabei war der verheerende Bombenanschlag auf die schiitische Goldene Moschee in Samarra. Inzwischen haben die schiitischen Milizen sich für eine gewaltsame Reaktion darauf entschieden und greifen ihrerseits Sunniten an, nicht allein durch mit staatlichen Instanzen verknüpfte Todesschwadronen. Ziele dieser Schläge sind Al-Qaida, Gruppen der sunnitischen Aufständischen und Teile der sunnitischen Zivilbevölkerung. Ein Ergebnis dieser inter-konfessionellen Gewalt liegt in den um sich greifenden ethnischen (bzw. konfessionellen) „Säuberungen“, bei denen in Stadtvierteln (vor allem, aber nicht nur in Bagdad) die Angehörigen der jeweils anderen Konfession vertrieben werden.
  • Insbesondere im Süden (vor allem in den Provinzen Basra und Amarah), im geringeren Maße auch in Bagdad oder anderen Orten kommt es zunehmend zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen schiitischen Gruppen und Milizen, die sich um regionale Kontrolle und die politische Dominanz in der schiitischen Gemeinschaft streiten. Im Zentrum dieser intra-schiitischen Gewalt steht die Mahdi-Armee des radikalen Predigers Muqtada Sadr, die auch an inter-konfessionellen Kämpfen beteiligt ist. Aus der Sicht des US-Verteidigungsministeriums hat diese Gruppierung inzwischen Al-Qaida als gefährlichste Organisation abgelöst.

In dieser Situation mehrerer sich überlappender Konflikte ist jede Eingriffsmöglichkeit schwierig und nur begrenzt Erfolg versprechend – aber eine Konzentration auf militärische Mittel besonders aussichtslos. Solche Arten von Konflikten lassen sich unter bestimmten Bedingungen durch kluge Politik im Vorfeld vermeiden – wenn sie aber eskaliert und miteinander verknüpft sind, wird jede konstruktive Bearbeitung schwierig. Wenn ausländische Soldaten nun aber ausgerechnet durch Gewalt eingreifen wollen, geraten sie in eine höchst diffizile Situation, indem sie leicht zwischen alle oder zumindest mehrere Fronten geraten. Und da die US-Truppen sich kaum dem Verdacht aussetzen können, manche Milizen bzw. Bevölkerungsgruppen gegen andere zu unterstützen, wollen sie „den Staat“ bzw. die Regierung unterstützen – aber ein Problem besteht offensichtlich darin, dass Staat und Regierung selbst aus sehr unterschiedlichen und konfligierenden Elementen zusammengesetzt sind, dass seine Handlungsfähigkeit deshalb gering ist und die verschiedenen Parteien und Milizen erfolgreich versuchen, jeweils Teile des Staatsapparates für sich zu monopolisieren und zu instrumentalisieren. Die Verknüpfung schiitischer Todesschwadronen mit dem Innenministerium oder die faktische Übernahme der Hinrichtung Saddam Husseins durch Anhänger Muqtada Sadrs sind deutliche Beispiele. Solange also der Staatsapparat vor allem die Beute widerstreitender Parteien und Milizen ist und nicht von der großen Mehrheit aller Bevölkerungsgruppen als legitim akzeptiert wird, müssen die ausländischen Truppen weiter den Verdacht auf sich ziehen, nur eine Kriegspartei neben anderen zu sein und ihre Favoriten im Irak zu unterstützen – was diese zwar materiell stärken mag, politisch aber belastet.

 

Bilanz und Ausblick

Im Jahr 2007 befindet sich der Irak in einer Situation, die zugleich von politischer Fragmentierung, wirtschaftlicher Not, gewaltsamem Widerstand und Bürgerkrieg gekennzeichnet ist. Die hauptsächliche Verantwortung dafür liegt in Washington, das eine repressive Diktatur gewaltsam stürzte und in einen failing state verwandelte. Eine imperiale Politik, die sich hinter dem Kampf gegen Massenvernichtungswaffen und dem Eintreten für Demokratie verbarg, vermochte mit ihrem militärischen Sieg nichts anzufangen und führte zu einer Situation der Instabilität, die das bewirkte, das sie zu beseitigen vorgab: dass der Irak zu einer zentralen Brutstätte des Terrorismus wurde, die er zuvor nie gewesen war. Dabei brachten sich die USA in eine Lage, in der ein Abzug aus dem Irak immer schwieriger wurde, wenn sie eine schmerzhafte Niederlage vermeiden wollten, ein Verzicht auf den Truppenrückzug allerdings den Konflikt immer unlösbarer machen musste. Während die USA 2003 noch in der Lage gewesen wären, durch eine kluge Politik des wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus das Land zu befrieden und politisch zu gestalten, war diese Option spätestens 2005 verspielt, und seit 2006 sind die USA in gewissem Sinne im Irak zwar weiterhin der stärkste Machtfaktor, paradoxer Weise aber in gewissem Sinne politisch marginalisiert. Heute können die USA ihre Truppenstärke erhöhen oder vermindern – beides kann den Irak nicht mehr aus der Gewalt und Fragmentierung befreien. Der Unterschied beider Optionen besteht für die nächsten drei oder vier Jahre nur noch darin, ob sich die Gewalt vor allem gegen die ausländischen Truppen richtet oder ob die inter- und infra-konfessionellen Kämpfe eskalieren. Die innergesellschaftlichen Konflikte im Irak sind inzwischen so weit entwickelt und haben sich in einem Maße verselbständigt, dass sie sich externer Kontrolle entziehen.

 

Fußnoten nur in der Druckfassung

 

Quelle:

Jochen Hippler
Von der Diktatur zum Bürgerkrieg – Der Irak seit dem Sturz Saddam Husseins,
in: Jochen Hippler (Hrsg.), Von Marokko bis Afghanistan – Krieg und Frieden im Nahen und Mittleren Osten,
Hamburg 2007, S. 92-109

 

 

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