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Jochen Hippler

Globale Werte, Völkerrecht und zwischenstaatliche Gewalt –
Auf dem Weg zu einer politischen Weltkultur?

 

 

Gewalt war und ist ein Mittel der Durchsetzung politischer Interessen, ein Zwangsmittel und Machtinstrument, aber zugleich immer auch eine Form der Kommunikation, ein Ausdruck politischer Kultur. Gewalt beinhaltet neben ihrer materiellen Wirkung, etwa der Zerstörung materieller Güter oder der Verletzung oder Tötung von Menschen notwendigerweise einen symbolischen Aspekt. Gewaltakte sind Stellungnahmen, Positionsbestimmungen, die meist konkrete Aussagen kommunizieren (etwa: einen Machtanspruch oder deren Zurückweisung). Betrachtet man aber nicht die einzelnen Gewaltakte, sondern deren Muster, Kontext und Struktur, dann kommunizieren sie auch Werte und Wertesysteme. Dieser Aspekt von Gewalt wird dadurch verstärkt, dass sie in der Regel politisch und normativ gerechtfertigt wird und so der kommunikative Aspekt noch in den Vordergrund rückt. Dies gilt innerhalb von Gesellschaften ebenso wie für die Gewalt zwischen Gesellschaften und Staaten.

Bezogen auf die Herausbildung einer Weltkultur – besser: die Herausbildung und Vermehrung globaler Kulturelemente – nimmt die kulturelle Verarbeitung und Einbettung von Gewalt eine Schlüsselstellung ein. Dabei besteht ein langfristiger Trend zur Gewaltregulierung, Gewalteinhegung und Kriegsvermeidung, der sich durch eine Verknüpfung von globaler Wertebildung und Völkerrecht ausdrückt. Diese Tendenz ist allerdings nicht automatisch und wird immer wieder durch Rückschläge unterbrochen und aufgehalten, wie auch der Irak-Krieg des Jahres 2003 erneut unterstrich. Die Bildung einer globalen Kultur der Gewaltbegrenzung geschieht in der Auseinandersetzung mit alternativen Wertesystemen, vor allem ideologischen Fundamentalisten und einer vorgeblich wertfreien technokratischen Kultur der Nützlichkeit.

 

Zentralgrafik
Globale Werte, Völkerrecht und politische Gewalt

(siehe Druckfassung)

 

Gewalt als kultureller Akt

Gewalt kann in einer Gesellschaft politisch-kulturell sehr unterschiedliches bedeuten. Nehmen wir etwa die Gewaltkriminalität, dann ist erkennbar, dass diese bestimmte gesellschaftliche Normen explizit oder implizit zurückweist, z.B. die Respektierung von Eigentumsrechten oder die formalisierte Regelung von Konflikten im Rahmen von Justizverfahren oder in ethnischen oder klientelgestützten sozialen Netzwerken. So wie das Gewaltmonopol des Staates bestimmte wertebasierte Grundlagen voraussetzt und durchsetzen will, so zielt die Gewaltausübung im Rahmen eines „Rechts des Stärkeren“ oder traditioneller, religiöser oder ökonomischer Gemeinschaften auf ein anderes System politisch-kultureller Werte. Blutrache beispielsweise ist ein alternatives Rechtssystem zum staatlichen Gewaltmonopol, in dem etwa die Familien, Clans oder Stämme das Recht „in die eigenen Hände“ nehmen – entweder weil ein Gewaltmonopol nicht existiert, nicht funktioniert, oder weil es nicht akzeptiert wird, da es als nicht legitim gilt. Gewaltanwendung, soweit sie nicht primär der persönlichen Bereicherung und sonstigen Interessendurchsetzung dient, erfolgt oft im Kontext eines Diskurses der „Gerechtigkeit“ oder anderer moralisch begründeter Werte - indem die eigene Gruppe sich nun das mit Gewalt nimmt, was ihr „zu Recht zusteht“ oder sich gegen „ungerechte“ Benachteiligung wehren möchte. All dies sind kulturelle Wertmaßstäbe, an denen sich die Gewalt entweder orientiert, oder die diese erst durchsetzen will. Auch der Terrorismus von Al-Qaida und anderer hat in diesem Sinne eine kulturelle Dimension. Das gilt im Übrigen sogar für die zahlreichen Formen krimineller Gewalt, insofern dort der individuelle Nutzen, die eigene entschlossene Rücksichtslosigkeit, der Egoismus oder eine wahrgenommene Perspektivlosigkeit höher bewertet werden als die kollektiven Werte der Gesetzestreue oder der konsensualen Konfliktaustragung.

Die Einhegung von Gewalt ist deshalb zugleich ein politischer und kultureller Prozess, der von „oben“ und von „unten“ wachsen muss, um zu gelingen: von unten, indem Gewalt an der Basis von Gesellschaften zuerst immer weniger selbstverständlich und schließlich tabuisiert wird. Die politisch-organisatorische Ausdrucksform dieses Prozesses besteht historisch im Gewaltmonopol des Staates, das die diffundierte, private Gewalt in der Gesellschaft dadurch minimiert, dass sie die Legitimation und Mittel der Gewaltausübung beim Staat zentralisiert und eben prinzipiell monopolisiert. Dieses Verfahren der Gewaltreduzierung funktioniert allerdings nur, wenn der Staatsapparat sich bestimmten Regelsystemen, Normen und Einschränkungen seiner Handlungsfreiheit unterwirft (Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) – geschieht dies nicht, kann die Monopolisierung der Gewalt beim Staat zu kaum vorstellbaren Exzessen der Bestialität führen, wie im Faschismus oder Stalinismus geschehen. Die Gewalteinhegung innerhalb der Gesellschaft durch den Staat kann also nur gelingen, wenn der Staat zur Selbsteinhegung bereit ist, eine wichtige politisch-kulturelle Leistung, die juristische, politische und organisatorische Folgen zeitigt und nicht überall einfach vorausgesetzt werden kann.

Die Überwindung von Struktur und Kultur der Gewalt im Inneren stellt aber nur eine Seite der Medaille dar: diese Aufgabe könnte ja auch durch die Ablenkung der Gewaltpotentiale nach außen erreicht werden, also durch die Herstellung eines inneren Friedens durch äußeren Krieg. Ein solches Verfahren wurde in der Geschichte immer wieder angewandt, führt aber offensichtlich nur zu einer Umstrukturierung von Gewalt, nicht notwendigerweise zu deren Verminderung.

Ähnliches gilt für die zwischenstaatliche Ebene. Auch auf ihr war und ist Gewalt nicht allein ein materielles Mittel zum Zweck, sondern ein kultureller Akt, ein Akt der Kommunikation von Werten, Normen und Interessen. Die selbstverständliche Unbefangenheit, mit der in der Vergangenheit (etwa in der Zeit des Absolutismus) „Kabinettskriege“ geführt wurden, um dem eigenen Staat Vorteile zu verschaffen, reflektierte auch eine bestimmte Einstellung zu Gesellschaft und Politik, zum Leben, etwa zum „Untertan“, der dem Staat zu dienen hatte – und nicht umgekehrt. Kriege waren die normale Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Clausewitz) , sie dienten schlicht der Durchsetzung der eigenen Interessen mit Gewalt. Jede Vorstellung, dass die Bürger dabei mitzureden hätten, jede Idee, der Staat hätte sich noch anderen Imperativen zu unterwerfen als der Nützlichkeit von Krieg, wären als absurdes Wunschdenken – oder subversive Propaganda – zurückgewiesen worden. Der Krieg wurde begriffen als letztendliche Manifestierung der staatlichen Souveränität.

 

Einhegung internationaler Gewalt.

Die Einhegung, Zentralisierung und Reglementierung von Gewaltausübung innerhalb und zwischen Staaten stellt einen wichtigen zivilisatorischen Fortschritt der letzten Jahrhunderte dar, der zugleich politische und kulturelle Dimensionen beinhaltete, und eng mit der Herausbildung neuer Wertesysteme verknüpft war. Die Bildung und Stärkung dieser Wertesysteme konnte ihrer Natur nach im zwischenstaatlichen Raum nur als internationaler, zunehmend globaler Prozess gelingen, der in die einzelnen Gesellschaften ausstrahlte.

Zugleich kam es in einer ganzen Reihe von Gesellschaften zu internen Zivilisierungsprozessen, bei denen das interne Gewaltpotenzial reduziert wurde.

In diesem Sinne war insbesondere die Zeit seit dem Ersten, verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg eine von Rückschlägen und Widersprüchen gebrochene Phase der Zivilisierung vor allem zwischenstaatlicher Konflikte, die aus den katastrophalen Erfahrungen zweier globaler Kriege und dem Holocaust entsprang. Beschränken wir uns hier auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so sind vor allem die Gründung der Vereinten Nationen – bezogen auf die friedenspolitische Wertekodifizierung insbesondere deren Charta – zu nennen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die sich bereits in ihrem ersten Satz (wie auch die UN-Charta) explizit auf den Weltfrieden bezog, und auf die zahlreiche weitere Menschenrechtskonventionen folgten, die vier Genfer Konventionen von 1949, oder die – für uns hier weniger bedeutsamen - verschiedenen Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen, die von Massenvernichtungswaffen bis hin zu Kleinwaffen und Landminen reichten. So entstand ein umfassendes Regelwerk, das von allgemeinen Prinzipien der Friedensbewahrung bis zur Regelung zahlreicher Detailfragen reichte, und insgesamt auf die Regulierung und Reduzierung von politischer Gewalt zielte, vor allem zwischen Staaten.

Nun würde die Zahl der Gewaltkonflikte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Opfer es absurd erscheinen lassen, von einer tatsächlichen Friedensordnung oder einer neuen, globalen Kultur des Friedens zu sprechen – denn das mühsame und widersprüchliche Entstehen eines neuen Normensystems bedeutet natürlich noch lange nicht, dass diese Normen nicht verletzt würden. So hat sich beispielsweise das Christentum über weite Teile des Globus durchgesetzt, auch wenn dies nicht die entsprechende, umfassende Beachtung der Zehn Gebote oder des Liebesgebots der Bergpredigt nach sich zog. Wertesysteme können sehr einflussreich und prägend sein, ohne dass sie im Wortsinne immer beachtet und eingehalten würden. Die kulturelle Prägung politischer Rahmenbedingungen funktioniert anders und indirekter als streng justiziable Vorschriften, ist aber nicht bedeutungslos.

Betrachten wir den inhaltlichen Kernbereich einer globalen Kulturentwicklung zur Einhegung, Regulierung und Minimierung politischer Gewalt zwischen Staaten, dann können wir vier Ebenen unterscheiden:

1. allgemeine Normen und Vorschriften zur Regelung oder Vorbeugung von Konflikten, die Mindeststandards für den Umgang zwischen Staaten festlegen, um eine Entwicklung zur Gewalt, die Überschreitung der Gewaltschwelle – also Krieg – weniger wahrscheinlich zu machen.

2. völkerrechtliche Vorschriften zur Bestimmung der Legalität von Krieg und gewaltsamen Konflikten, also der Frage, unter welchen Umständen ein Krieg erlaubt sein kann.

3. völkerrechtliche Abkommen und Verträge über Rüstungskontrolle, Rüstungsbeschränkung oder Abrüstung.

4. Regelungen des humanitären Völkerrechts, das verbindliche Bestimmungen für das Verhalten von Konfliktparteien innerhalb eines Gewaltkonfliktes oder Krieges definiert.

Diese Ebenen können vermischt auftreten, da etwa rechtliche Vorschriften zur Verhinderung von Krieg oder das Verbot bestimmter Waffen (etwa Anti-Personenminen oder Chemiewaffen) offensichtlich auch humanitäre Aspekte in sich tragen.

 

Gewalteinhegung durch allgemeine Völkerrechtsprinzipien.

Aus dem Westfälischen Frieden (1648) entwickelte sich eine Gruppe allgemeiner Prinzipien zwischenstaatlichen Handelns, die seitdem wesentlich fortentwickelt und verrechtlicht wurde. Dabei geht es primär um die Respektierung der Souveränität fremder Staaten, unabhängig von deren religiöser Ausrichtung, politischen Verfasstheit oder konkreter Politik. Staaten sollen vor diesem Hintergrund prinzipiell als Gleiche miteinander verkehren und auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten wechselseitig verzichten. In der UNO-Charta wurde dies zu einem der Leitgedanken, wenn beispielsweise in Artikel 2 vom „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ gesprochen wird.

Dieser Grundsatz entstand aus der Erfahrung des 30-jährigen Krieges, bei der die enge Verknüpfung von Machtpolitik, Regellosigkeit und Religion einen großen Teil Europas zerstörte und entvölkerte – religiöse Grundentscheidungen in Nachbarländern sollten mit Gewalt von außen entschieden werden. Das neue Prinzip der Nichteinmischung und Respektierung von Souveränität und territorialer Integrität entstand also aufgrund praktischer Notwendigkeiten, nämlich dem Erfordernis der Entwicklung von Regeln des Zusammenlebens zwischen Staaten, die den Krieg beenden und ähnlich verheerende Katastrophen vermeiden sollten. Dieses höchst praktische politische Prinzip beinhaltete allerdings – zumindest auf Dauer – einen kulturellen Fortschritt: nämlich das Gebot der Toleranz Anderen gegenüber, zumindest zwischenstaatlich. Gewaltkatastrophen sollten weniger wahrscheinlich werden, indem die Staaten sich trotz aller Andersartigkeit (damals vor allem im Glauben) respektierten und gegenseitig als prinzipiell legitim anerkannten. Wenn Gewaltverzicht an bestimmte inhaltliche Kriterien gebunden wird – etwa: er gilt nur gegenüber Ländern der gleichen Konfession, er gilt nur gegenüber bestimmten Regierungsformen (etwa Monarchien oder Demokratien), er gilt nur gegenüber Staaten, deren Politik man für richtig oder erträglich zu halten beliebt – wird die Gewaltschwelle wesentlich gesenkt, steigt die Gefahr einer Anarchisierung der internationalen Beziehungen und nimmt auch die Ideologisierung der Politik zu, da massiver Bedarf danach besteht zu definieren, ob Gewalt gegen bestimmte Akteure nicht doch legitim sei.

Die Respektierung der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten stellte also einen ungeheuren Zivilisationssprung dar, der zum Ausgangspunkt aller anderen Bemühungen zur Einhegung von zwischenstaatlicher Gewalt wurde.

Die UNO-Charta will diesen Fortschritt festschreiben und alle Mitglieder auf entsprechende Grundprinzipien verpflichten.

Alle Mitgliedsstaaten erklären durch ihren Beitritt zur UNO ihre Entschlossenheit, „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird“.  (Präambel der UNO-Charta)

Im 1. Artikel der Charta werden als Ziele der Vereinten Nationen definiert:

„1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.

2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen.“

Die Verhinderung von zwischenstaatlicher Gewalt und Krieg steht aufgrund der Erfahrungen der beiden Weltkriege im Zentrum der Aufgaben der Vereinten Nationen. Alle Mitgliedsländer haben sich prinzipiell – offensichtlich nicht immer in ihrer praktischen Politik - auf diese Prinzipien verständigt. Auf die reale Bedeutung dieser prinzipiellen, völkerrechtlich abgesicherten Verpflichtung wird später einzugehen sein. Hier bleibt aber festzuhalten, dass es sich bei den uns interessierenden Aspekten des Völkerrechts um die Formulierung allgemein gültiger, interkultureller und globaler Werte handelt (wie die zitierten Werte: Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Frieden, Gerechtigkeit, Duldsamkeit), dass diese aber zugleich in einer juristischen Form verfestigt, kodifiziert und operationalisiert werden. In diesem Sinne ist das Völkerrecht ein wichtiges Element einer entstehenden globalen Kultur, die bereits über einen beträchtlichen gemeinsamen, normativen Kernbestand verfügt.

 

Das völkerrechtliche Gewaltverbot.

Die zweite Ebene einer Verregelung zwischenstaatlicher Gewalt ist nach der Definition allgemeiner Verhaltensnormen die Frage, wann Gewalt überhaupt noch legitim angewandt werden darf. Dieses ius ad bellum war früher, auch nach dem Westfälischen Frieden, noch das entscheidende Kriterium staatlicher Souveränität. Die Legalität von Krieg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg massiv zurückgedrängt und präzise definiert. Heute lässt sich die Rechtslage in dieser Frage vereinfacht so zusammenfassen: prinzipiell ist Krieg illegal, völkerrechtswidrig. Von diesem prinzipiellen Gewaltverbot in den zwischenstaatlichen Beziehungen gibt es nur zwei Ausnahmen. Einmal ist Krieg erlaubt, wenn er der Selbstverteidigung dient. Selbstverteidigung entspricht der „Notwehr“ in innergesellschaftlichen Gewaltregelungen, sie wird allerdings streng und eng definiert: Selbstverteidigung liegt nach geltendem Konsens nur dann vor, wenn man entweder angegriffen wird, oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht. Darüber hinaus gilt beim Recht auf Selbstverteidigung eine weitere, wesentliche Einschränkung, die in Artikel 51 der UNO-Charta definiert ist: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Das Selbstverteidigungsrecht von Staaten ist deshalb nur ein zeitweiliges, ein Notrecht, bis der UN-Sicherheitsrat selbst einschreitet. Es ist also mehrfach eingeschränkt und an strikte Bedingungen gebunden, was demonstriert, dass es so restriktiv wie möglich angewandt werden soll.

Die zweite Ausnahme des Gewaltverbots besteht in einem entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Kapitel 6 und vor allem 7 der UNO-Charta), der sich wiederum auf bestimmte inhaltliche Voraussetzungen stützen muss: nach Artikel 39 der UNO-Charta besteht die Voraussetzung darin, dass der Sicherheitsrat formell feststellt, dass eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ vorliegt. Danach kann der Sicherheitsrat Empfehlungen zur Beilegung der bestehenden Situation abgeben oder – zivile – Maßnahmen beschließen, die eine festgestellte Friedensbedrohung oder Angriffshandlung korrigieren (Paragraphen 39-41). „Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, dass die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.“ (§ 42)

Damit sind die beiden einzigen legalen Möglichkeiten militärischer Gewalt zwischen Staaten definiert: ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates, den Frieden auch gewaltsam zu schützen oder wiederherzustellen, und ein eng umgrenztes Selbstverteidigungsrecht, das allerdings nur im Vorfeld von Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates gelten kann. Alle anderen Gewaltmaßnahmen zwischen Staaten sind völkerrechtswidrig, unabhängig von ihren jeweils denkbaren Begründungen.

 

Humanitäres Kriegsvölkerrecht.

Eine dritte Ebene der Gewalteinhegung besteht nicht in der Kriegsverhinderung, sondern in der Regulierung und Normgebung für die (legal oder illegal stattfindende) Kriegführung selbst. Dies ist die Aufgabe des humanitären Kriegsvölkerrechts, das auf die Minimierung der humanitären Folgen von Krieg zielt. Auch dabei gehen juristische Kodifizierung und Werteentwicklung wieder Hand in Hand. Beispielhaft dafür sind die vier Genfer Abkommen vom August 1949, die dem Schutz von Verwundeten und Kranken der kriegführenden Parteien, sowie dem Schutz von Kriegsgefangenen und von Zivilpersonen gewidmet sind und durch zwei Zusatzprotokolle zum Schutz der Opfer nationaler oder internationaler Konflikte ergänzt werden. Das Grundprinzip dieser Vereinbarungen kommt wortgleich in allen vier Abkommen vor. Es lautet:

"Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeine andere Ursache außer Kampf gesetzt sind, werden unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt, ohne jede auf Rasse, Farbe, Religion oder Glauben, Geschlecht, Geburt oder Vermögen oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende Benachteiligung" (Art. 3 II GA I-IV)

Dabei wird erneut die enge Verzahnung von Völkerrecht und internationaler Werteentwicklung deutlich: im Krieg alle Menschen, die nicht selbst aktiv am Kampf teilnehmen (einschließlich gefangener oder verwundeter feindlicher Soldaten) „unter allen Umständen mit Menschlichkeit“ behandeln zu müssen mag juristisch vage bleiben, ist aber eine internationale, interkulturelle Wertsetzung, deren kulturelle Bedeutung hoch gewertet werden muss – um so mehr, als dies explizit ohne jegliche Bevorzugung oder Benachteiligung gegenüber allen Personengruppen zu erfolgen hat.

 

Übersicht: Entwicklung des humanitären Völkerrechts

  • 1864 Genfer Konvention zur Verbesserung des Loses der Verwundeten bei den im Felde stehenden Heeren
  • 1868 St. Petersburger Erklärung (Verbot des Einsatzes gewisser Wurfgeschosse in Kriegszeiten)
  • 1899 Haager Abkommen, namentlich das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, und Anpassung der Grundsätze der Genfer Konvention von 1864 an den Seekrieg
  • 1906 Revision und Erweiterung der Genfer Konvention von 1864
  • 1907 Revision der Haager Abkommen von 1899 und Annahme neuer weiterer Abkommen
  • 1925 Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege
  • 1929 Zwei Genfer Abkommen:
  • Revision und Weiterentwicklung des Genfer Abkommens von 1906
  • Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen (neu)
  • 1949 Vier Genfer Abkommen
  • I. Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde
  • II. Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See
  • III. Behandlung der Kriegsgefangenen
  • IV. Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (neu)
  • 1954 Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten
  • 1972 Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen
  • 1977 Zwei Zusatzprotokolle zu den vier Genfer Abkommen von 1949, die den Schutz der Opfer internationaler (Protokoll I) und nicht internationaler (Protokoll II) bewaffneter Konflikte verstärken
  • 1980 Übereinkommen über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßiges Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können. Dieses Übereinkommen umfaßt:
  • Protokoll (I) über nichtentdeckbare Splitter
  • Protokoll (II) über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen
  • Protokoll (III) über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Brandwaffen
  • 1993 Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen
  • 1995 Protokoll über blindmachende Laserwaffen (Protokoll IV [neu] zum Übereinkommen von 1980)
  • 1996 Revidiertes Protokoll über das Verbot und die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen (Protokoll II [revidiert] des Übereinkommens von 1980)
  • 1997 Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung (Vertrag von Ottawa)
  • 1998 Statut für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (Statut von Rom)

Quelle:
Deutsches Rotes Kreuz, Generalsekretariat, nach: http://www.drk.de/voelkerrecht/hv/hv_04.html

Die Einschränkungen oder das Verbot von bestimmten Waffen, die in dieser Übersicht teilweise enthalten sind, tragen zum Teil humanitären, zum Teil aber auch politischen oder militärtechnischen Charakter. Solche Abkommen oder Verträge könnten deshalb auch außerhalb des humanitären Völkerrechts als eine getrennte Kategorie der Verrechtlichung und Einhegung der zwischenstaatlichen Gewalt aufgefasst und durch zahlreiche weitere Vertragswerke (bilateraler und multilateraler Art) ergänzt werden, etwa durch das nukleare Teststopabkommen oder den Atomwaffensperrvertrag.

 

Gewalteinhegung durch völkerrechtliche Normentwicklung.

Zu Beginn des 21. Jahrhundert ist die Welt kein friedlicher Ort, in dem Krieg der Vergangenheit angehörte. Ganz im Gegenteil: gerade das 20. Jahrhundert hat sich als besonders gewalttätig erwiesen, und das letzte Jahrzehnt vermittelt nicht den Eindruck, dass die Zeit kriegerischer Konflikte vorüber sei. Trotzdem hat sich die Sicht von Krieg in den beiden letzten Jahrhunderten grundlegend geändert. Noch lange nach den ersten normativen und rechtlichen Folgen des 30-jährigen Krieges blieben Kriege „normal“, also in gewissem Sinne selbstverständlich: sie wurden aus Nützlichkeitserwägungen geführt, und auch ihre konkrete Form bestimmte sich aus diesen. Mit der Einführung stehender Heere und dann der allgemeinen Wehrpflicht waren Kriege sogar immer zerstörerischer geworden, was durch die Giftgasangriffe des Ersten Weltkriegs und den „Totalen Krieg“ Nazi-Deutschlands symbolisiert wurde. Aber gerade diese Erfahrungen auf die Spitze getriebener Gewalt trugen zu einem Wandel der Wahrnehmung von Krieg bei. Krieg verlor seine „Normalität“, er wurde nicht länger als etwas akzeptiert, das über die Menschen „hereinbrach“ wie ein Unwetter, sondern zunehmend als furchtbare Fehlleistung menschlichen Handelns, als Verbrechen begriffen, das sich prinzipiell nicht wiederholen dürfe. Dieser Wahrnehmungswandel bedeutete einen deutlichen kulturellen Einschnitt, da er implizierte, nicht mehr die Nützlichkeit für Staat und Regierung ins Zentrum zu rücken, sondern die Wirkungen auf die Gesellschaften und die Einzelnen. Die sich herausbildende neue Sicht des Krieges implizierte einen deutlichen Wandel der Rolle der Individuen und der Gesellschaft in der Politik allgemein, und in gemilderter Form auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Sie implizierte auch eine Tendenz zur Bindung und Selbstbindung von „souveränen“ Regierungen an ihnen vorgegebene und übergeordnete Werte und Regeln.

Ohne eine verstärkte Rechenschaftspflicht der Regierungen ihren Bürgern gegenüber – nicht unbedingt im Kontext von innerstaatlicher Demokratie, aber zumindest in einem erhöhten Bedarf nach staatlicher Legitimität und Akzeptanz durch die Bürger – wäre dieser Wertewandel undenkbar gewesen. Es ist offensichtlich, dass er einerseits nicht wirklich in allen Ländern synchron verlief – dazu trugen der Kolonialismus, unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und politische Bedingungen bei -, dass er sich aber nicht auf einzelne Inseln der Zivilisierung beschränkte, sondern einen breiten, internationalen Charakter annahm.

Die Gründung der Vereinten Nationen und die wachsende Bedeutung des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts unterstrichen diesen Punkt: der Wertewandel führte zu Bemühungen, nicht allein die innergesellschaftlichen, sondern auch zwischenstaatliche Gewaltformen einzuhegen, weniger destruktiv werden zu lassen, und letztlich zu minimieren oder ganz zu vermeiden. Dabei kam es zu einer engen Verknüpfung politischer, juristischer und kultureller Aspekte, zu Ansätzen der Herausbildung globaler Normen und Wertesysteme, die zum großen Teil völkerrechtlich kodifiziert wurden. Dabei spielten im engeren Sinne „politische“ Erwägungen eine wichtige Rolle, etwa der Versuch, einen erneuten Zusammenbruch des internationalen Systems zu vermeiden. Aber ohne die kulturelle Verarbeitung der Erfahrungen von millionenfachem Sterben, der kollektiven Hilflosigkeit, des Holocaust, der „Sinnlosigkeit“ von Krieg (bereits eine Formulierung kultureller Verarbeitung) wären solche Versuche wenig Erfolg versprechend gewesen. Erst der Schock, die Lähmung, das Entsetzen und die Verzweifelung der europäischen Gesellschaften (andere blieben aufgrund der Machtverhältnisse dafür marginal), also erst die emotional so tiefgehenden Brüche und Unsicherheiten im Wertesystem und Selbstbild Europas und Nordamerikas machten den Weg frei, das Streben nach Regelung und Minimierung zwischenstaatlicher Gewalt in juristischer Form verfestigen zu können. Die Verrechtlichung der geänderten Wertesysteme war eine Voraussetzung, sie im zwischenstaatlichen Verkehr zu verankern, sie aus der Ebene rein moralischer Forderungen zu lösen und zu konkreten Regeln werden zu lassen – und sie stellte im Unterschied zur religiösen oder rein kulturellen Tabuisierung bestimmter Verhaltensweisen eine „moderne“ Form der Werteformulierung dar. Zugleich war die Kodifizierung als Völkerrecht der zentrale Hebel, ihre globale Geltung voranzutreiben. Auch wenn aufgrund der internationalen Machtverhältnisse und der Erfahrungen der beiden von Europa ausgehenden Weltkriege das Völkerrecht eine westliche Quelle hatte, so wurde es doch durch seine schrittweise Akzeptierung nach der Dekolonisierung zu einem tatsächlich weltweiten Normensystem.

Das Besondere an diesen zwischenstaatlichen Regelungen war allerdings im Gegensatz zu vielen Verrechtlichungsprozessen innerhalb von Staaten, dass sie noch stärker „kulturell“ blieben als diese. Während nämlich interne Verregelungs- und Verrechtlichungsprozesse meist an entsprechende Sanktionierungsmechanismen und –Instanzen geknüpft wurden (also vor allem an die Polizei und ein Justizsystem) gelang dies bisher auf internationaler Ebene erst in Ansätzen. Wer innerhalb eines Staates durch illegale Gewaltanwendung Recht bricht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür zur Rechenschaft gezogen. Wenn internationale Akteure Völkerrecht brechen, mag der Rechtsbruch offenkundig sein – etwa im Fall des Angriffs auf den Irak durch die USA im März 2003 -, ein juristisches oder quasi-polizeiliches Instrumentarium zu dessen Ahndung besteht meist nur theoretisch. In diesem Sinne bleibt Völkerrecht in vielen Bereichen, die sich mit der Frage politischer Gewalt und mit Krieg befassen, ein Regelungswerk, das trotz seines juristischen Charakters vor allem kulturell wirkt, oder eben auch nicht: allgemein akzeptierte Regelungen, die aber in Kernbereichen nur durch die ihnen innewohnende Moral, durch ihre Überzeugungskraft, die Tabuisierung von Verstößen und die Selbstbindungsbereitschaft der wichtigsten Akteure funktionieren, ohne in der Regel wirksame Sanktionsmechanismen zu besitzen. Die Sanktionierung von Völkerrechtsbrüchen – soweit sie sich auf Fragen der Gewaltanwendung bezieht – geschieht deshalb meist á-la-carte, also selektiv nach Opportunitätskriterien – wodurch sie ihren Rechtscharakter verliert und zum politischen Machtinstrument wird. Nehmen wird das Beispiel Irak: der völkerrechtswidrige Überfall dieses Landes auf den Iran (1980) wurde international weitgehend unterstützt oder mit Schweigen übergangen. Der ebenso rechtswidrige Angriff auf Kuwait (1990) dagegen führte zum Krieg gegen den Irak durch eine internationale Koalition, die mit dem Völkerrecht begründet wurde. Und der völkerrechtswidrige Angriff der USA und Großbritanniens auf den Irak (2003) hat nicht dazu geführt, dass die Rechtsbrecher international geächtet oder militärisch zum Rückzug gezwungen wurden. Das Völkerrecht ist in solchen Fällen vor allem eine moralische – also kulturelle – Instanz, was natürlich wie bei anderen kulturellen Mechanismen eine Manipulation durch Mächtige ermöglicht. In gewissem Sinne ähnelt das Völkerrecht in den uns hier interessierenden Bereichen religiösen Vorschriften oder Leitbildern, wie vielleicht dem Gebot der Nächstenliebe: ein wichtiger zivilisatorischer Fortschritt, ein bedeutender Beitrag zur Förderung humaner Umgangsformen, aber nichts, das bisher politisch einfach durchzusetzen wäre. Eine zentrale Zukunftsaufgabe müsste darin bestehen, den Charakter des Völkerechtes stärker vom kulturellen zum juristischen zu verschieben, wozu insbesondere die Durchsetzung und Stärkung unabhängiger und neutraler Sanktionsmechanismen gehört.

 

Bedingungen und Faktoren beschleunigter globaler Normbildung.

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung auf den Krieg bezogener globaler Wertesysteme spielten die Prozesse einer zunehmenden Verknüpfung, Verdichtung und Interdependenz internationaler Politik und die ansatzweise Herausbildung von Elementen einer „Weltgesellschaft“. Globale Normentwicklung setzt zum Teil die Bildung globaler Gesellschaftsstrukturen voraus, ist zum Teil auch ein Indiz für deren Entstehen. Auch wenn einige dieser Elemente bereits angesprochen wurden, so sollen sie doch hier kurz zusammengefasst werden, soweit sie für unser Thema bedeutsam sind. Die folgenden Aspekte spielten eine wichtige Rolle bei der Bildung und schließlichen Kodifizierung von globalen Werten und Normen, die zwischenstaatliche Gewalt und Krieg einhegen und zurückdrängen sollten.

 Die gewachsene Bedeutung innenpolitischer Aspekte für die Außenpolitik insgesamt, vor allem aber für Fragen von Krieg und Frieden. In den letzten hundert oder einhundertfünfzig Jahren ist es für Regierungen wesentlich schwieriger geworden, ohne oder gegen die eigene Öffentlichkeit Krieg zu führen. Das hängt zum Teil mit einer aktiveren und partizipativeren Rolle der Bürger in vielen Gesellschaften zusammen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Bedeutung der Öffentlichkeit auch in Halbdemokratien und Diktaturen kaum mehr ignoriert werden kann.

 Die gewachsene Bedeutung der Medien, die sich aus zwei Quellen speist: einmal ihrer Schlüsselrolle für die Formierung von „Öffentlichkeit“, andererseits der wesentlich verbesserten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und der ungeheuer beschleunigten Geschwindigkeit der Informationsvermittlung. Heute werden Informationen bekannt, die früher keine Chance auf Verbreitung gehabt hätten oder nur die Form vager Vermutungen oder Gerüchten angenommen hätten – und dies oft mit einer minimalen zeitlichen Verzögerung, was die emotionale und politische Wirkung solcher Informationen erhöht.

  • Die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit und internationaler Diskurse, gerade auch in Bezug auf emotionalisierenden und spektakuläre Ereignisse wie Krieg. Nationale Diskurse verzahnen sich, können sich zwar noch unterscheiden, aber kaum noch unabhängig voneinander entwickeln.
  • Der wesentlich vernetztere und interdependentere Charakter internationaler Politik führt dazu, dass viele Kriege nicht länger entfernte Ereignisse sind, bei denen „weit hinter der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“, wie Goethe es ausdrückte.
  • Die größere Rolle internationaler Organisationen in der Weltpolitik, die die Vernetzung weiter intensiviert und formalisiert und auf die Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern zurückwirken kann.
  • Der stärker verrechtlichte Charakter der internationalen Beziehungen, auch im Bereich der zwischenstaatlichen Gewalt.
  • Die Herausbildung von Elementen globaler politischer Kultur, die eng mit der Herausbildung des Völkerrechts verknüpft sind. Diese Kulturelemente konzentrieren sich auf humanitäre Fragen im weitesten Sinne, also etwa den Schutz von Zivilbevölkerung, insbesondere von Frauen und Kindern; auf Fragen von „Gerechtigkeit“; aber zunehmend beinhalten die Elemente einer Weltkultur auch einen prinzipiellen, positiven Bezug auf die Vereinten Nationen und auf das Völkerrecht.

 

Rückschläge bei der Norm- und Völkerrechtsentwicklung.

Die langfristige Bildung globaler Ethikelemente, die auf die Einhegung und Minimierung von Gewalt zielen, wird durch ohnehin ablaufende wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen gefördert, die zu stärkerer öffentlicher Partizipation an Politik, zu intensiverer Kooperation und Vernetzung über Grenzen hinweg, zu intensiverem kulturellen Austausch und zur Entstehung gemeinsamer, globaler Kultur- und Werteelemente beitragen. Es wäre allerdings irrig, eine solche Entwicklung mittelfristig für zwangsläufig oder automatisch zu halten: die Entstehung und Stärkung verbindender Ethik und des Völkerrechts erfolgen in Brüchen, Sprüngen und unter schweren Rückschlägen. Die Entwicklung einer Kultur der Kriegsvermeidung geschieht in der Form politischer Kämpfe, nicht von allein. Bezeichnend ist ja, dass vor allem schwerste Krisen und humanitäre Katastrophen die Werte- und Völkerrechtsentwicklung befördert haben. Zu anderen Zeiten kann die Entwicklung schwere Rückschläge erleiden: von den späten 20er bis zur Mitte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es beispielsweise einen massiven Trend zur Untergrabung und Aushöhlung von Völkerrecht und humanitären Werten. Das Fernbleiben der USA vom selbst initiierten Völkerbund (der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen) und die chronische Schwäche dieser Weltorganisation, die umfassende Verbreitung faschistischer und rassistischer Ideologien (nicht allein in Deutschland, Italien und Japan) waren Indizien für einen deutlichen Kulturbruch. In dieser historischen Phase nahmen sozialdarwinistische Ideologien einen massiven Aufschwung in der Innen- und Außenpolitik vieler Länder, und ein „Recht des Stärkeren“ wurde in weiten Teilen der Welt wieder hoffähig. Man sollte dabei nicht annehmen, dass solche Widersprüche und Kulturbrüche in der Entwicklung einer globalen Ethik der Kriegsvermeidung und Gewaltregulierung allein auf die damaligen Diktaturen beschränkt blieben. Auch große Demokratien waren dagegen nicht immun, wichtige Bereiche ihrer Außenpolitik unter Anwendung skrupelloser Gewalt durchzusetzen, entweder in bestimmten Regionen (die USA in Mittelamerika und der Karibik, wo die Kanonenbootpolitik und ein selbst proklamiertes Recht zur Intervention im gesamten 20. Jahrhundert nicht überwunden wurden) – oder im Kontext einer Politik einer Verteidigung bzw. Wiedererrichtung des Kolonialismus, etwa durch Frankreich in Indochina oder Algerien. Auch in der Periode des Kalten Krieges wurden die Konkurrenz zum jeweils anderen Lager oder die nationalen Eigeninteressen häufig für wichtiger gehalten als eine Vermeidung von Gewaltkonflikten – die gewaltsame Besetzung Ungarns, der CSSR oder Afghanistans durch die Sowjetunion, die Eroberung des Suez-Kanals durch Großbritannien, Frankreich und Israel oder der von den USA geführte Vietnamkrieg, von Washington geförderte oder organisierte, gewaltsame Umstürze oder Umsturzversuche etwa in Guatemala, dem Iran, auf Kuba, Brasilien, Chile, Nicaragua, Grenada waren Beispiele. Diese Tendenz endete nicht mit dem Oste-West-Konflikt: die irakische Eroberung Kuwaits, aber auch die Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan und gegen den Irak belegen dies.

Die Entwicklung, Kodifizierung und Stärkung globaler Werteelemente, die auf die Kontrolle zwischenstaatlicher Gewalt zielten, war und ist also ein prekärer Prozess voller Widersprüche und Rückschläge, dessen erfolgreiche Fortsetzung nicht einfach vorausgesetzt werden darf. Er kam durch ein Wechselspiel verschiedener Faktoren zustande, deren Pole einerseits in der verbreiteten Transformation obrigkeitsstaatlicher und diktatorischer Systeme in pluralistischere und partizipativere, also in das Eintreten der Bürger in den politischen Raum, andererseits in den traumatisierenden Erfahrungen verheerender Großkriege bestanden. Das Zusammentreffen beider Faktoren eröffnete die Chance zu humanitärer Normbildung und deren juristischen Verfestigung, aber beseitigten nicht die Kräfte und Anreizsysteme, die Krieg unter bestimmten Bedingungen für eine attraktive Politikoption halten.

Politische Gewalt und Krieg bleiben prinzipiell attraktive Politikoptionen, wenn der jeweilige Akteur entweder von einer Position der eindeutigen (realen oder angenommenen) Position der militärischen Überlegenheit ausgeht, wenn in einer Situation vergleichbarer Stärke einer der Akteure bezüglich der Gewaltanwendung deutlich geringeren politischen Restriktionen unterliegt als sein Konkurrent, oder wenn ein Akteur über keine Erfolg versprechenden Optionen nicht-militärischer Art verfügt. (Diese Möglichkeiten gelten primär für „offene“, konventionelle Kriegführung. Unter Bedingungen „verdeckter“ Kriegführung, bei der Urheber oder andere Faktoren oft im Dunkeln bleiben, stellt sich der Kontext noch komplizierter dar.) Auch diese Erwägungen beinhalten eine starke „kulturelle“ Dimension: sie werden


Schaubild: Faktoren gewaltsamer oder gewaltloser Konfliktaustragung

(siehe Druckfassung)


offensichtlich vor allem von Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten geprägt, also den Fragen, ob und welche Vorteile ein Krieg (oder andere Formen politischer Gewalt) überhaupt böten – ein Krieg, der vom Angreifer als nutzlos eingeschätzt würde, fände nicht statt. Zweitens werden Kriege in der Regel nur dann begonnen, wenn der Angreifer ihn nicht allein für vorteilhaft, sondern auch für gewinnbar hält – selten werden Kriege begonnen, wenn der Angreifer erwartet, ihn zu verlieren. Da bei einer solchen Einschätzung allerdings beträchtliche Unsicherheiten bestehen können – Kriege verlaufen selten genau so, wie sie zuvor geplant wurden, und die Abschätzung von Kräfteverhältnissen ist eine oft unsichere Angelegenheit – entsteht, neben anderen restriktiven Faktoren, eine Hemmschwelle für den Beginn von Kriegen, die mit dem Risiko verknüpft ist. Je höher das Risiko (also je unsicherer der Ausgang) und je geringer der potentielle Nutzen, desto unwahrscheinlicher ist Krieg – wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben. (Und zu diesen „anderen Faktoren“ können auch politische und kulturelle gehören: mögliche innenpolitische Probleme, völkerrechtliche Bedenken oder Besorgnis vor internationaler Isolierung).

Kulturell gesprochen liegt also die Existenz eines globalen (und ggf. nationalen) Normsystems zur Gewaltvermeidung und Friedensbewahrung im Konflikt mit „wertfreien“ Nützlichkeitserwägungen, die die Eigeninteressen stark ins Zentrum rücken. Beide Strömungen, die gewaltvermindernde und die utilitaristische Normorientierung kommen kaum jemals in Reinform und völlig getrennt vor, sondern auch die an globalen Werten, Normen und dem Völkerrecht ausgerichtete Politik muss die nationalen Eigeninteressen berücksichtigen, wird sie allerdings anders – nämlich kooperativer – formulieren, anders interpretieren und implementieren. Und umgekehrt wird eine rein utilitaristische Politik sich in der Regel aus politischen und legitimatorischen Gründen auf völkerrechtliche, wertegestützte oder „moralische“ Argumente beziehen, die sie rechtfertigen sollen, so dass in der politischen Realität die Unterscheidung nicht immer leicht fällt.

 

Normentwicklung als politische Auseinandersetzung.

Die Auseinandersetzung zwischen der weiteren Entwicklung und Verankerung globaler Normen zur Gewaltminimierung und Kriegsvermeidung und einem machtpolitischen Utilitarismus erfolgt am Scharnier von Politik und Ideologie. Sie wird auf zwei unterschiedlichen Ebenen geführt: einerseits kasuistisch, also in einer etwas unsystematischen, beliebigen Form, die sich aus dem Einzelfall entwickelt – das neueste Beispiel stellen die Rechtfertigungen des Krieges gegen den Irak durch die Bush-Administration dar. Auch wenn der Krieg aus Gründen der Machtpolitik und der US-Interessen am Persisch-Arabischen Golf geführt wurde, so präsentierte Washington doch ein ganzes, ständig wechselndes Bündel von Rechtfertigungen, die eine „moralische“ Begründung für den Krieg liefern sollten: Beseitigung von (fremden) Massenvernichtungswaffen, Demokratieförderung, Beseitigung regionaler Instabilität, „Befreiung“ der irakischen Bevölkerung, Terrorismusbekämpfung. Der internationale Diskurs sollte so von der Diskussion der US-Interessen am Golf, der Respektierung des Völkerrechts und der UNO und von humanitären Erwägungen auf moralisch aufgeladene Fragen verschoben werden, die eine wertebasierte und auf das Völkerrecht fokussierte Diskussion zu unterlaufen gestattete. Auch der machtpolitische Utilitarismus braucht zu seiner wirksamen Durchsetzung eine Hülle aus „Werten“ und einen Diskurs des humanitären Allgemeininteresses.

Auf einer abstrakteren Ebene wird die Auseinandersetzung von Einzelfällen abgelöst und stärker ideologisch oder prinzipiell geführt. Hier sind etwa die beiden Diskussionsstränge „humanitärer Interventionismus“ und „Neudefinition der Souveränität im Völkerrecht“ zu nennen. Im ersten Fall soll das prinzipielle Gewaltverbot, das ja einen starken humanitären Begründungskern enthält, gerade mit humanitären Rechtfertigungen relativiert werden, im zweiten aufgrund allgemeiner Erwägungen zum geänderten Charakter und Reichweite von nationaler Souveränität diese ebenfalls eingeschränkt werden. In beiden Fällen geht es in der Substanz darum, durch einen Diskurs über humanitäre und völkerrechtliche Werte und Normen zentrale Hürden militärischer Operationen und Krieges abzusenken. Das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen soll so teilweise aufgehoben werden. Nun bedeutet dies nicht, dass alle Argumente, die in diesen Diskussionen vorgebracht werden, automatisch falsch oder verwerflich seien. Aber, wie so häufig in politischen Auseinandersetzungen, können richtige Argumente in einem bestimmten Politikkontext durchaus einem zweifelhaften Zweck dienen. Ihr Pferdefuß liegt ja gerade nicht in der Einführung ethischer Erwägungen in die zwischenstaatlichen Beziehungen und das Völkerrecht – das ist längst geschehen – sondern in deren Abstraktion von bestimmten Schlüsselvoraussetzungen: beide Diskussionsstränge zielen erkennbar in der politischen Realität vor allem darauf, schwächere Gesellschaften und Staaten für die Interventionen der stärkeren zu öffnen, nie umgekehrt. Das Prinzip der prinzipiellen Gleichheit der Staaten und Gesellschaften wird ignoriert oder soll offensiv zurückgenommen werden. Togo oder Honduras (oder die Vereinten Nationen) werden kaum in der Lage sein, gegen Russland, China oder die USA eine humanitäre Intervention durchzuführen oder deren Souveränität „neu zu definieren“ (etwa zur Bekämpfung von Rassismus, der Abschaffung der Todesstrafe oder der Missachtung vieler sozialer Menschenrechte, oder wegen des Tschetschenienkrieges) – während dies in vielen umgekehrten Fragen eine realistische Politikoption wäre. Damit verbunden stellt sich bei solchen Diskussionssträngen die Frage der Definitionsmacht: wer kann und darf bestimmen, ob irgendwo eine „humanitäre Katastrophe“ vorliegt oder nicht, und wie und durch wen die nationale Souveränität und die Unantastbarkeit der Grenzen missachtet werden darf? Erneut steht eine solche Möglichkeit allein oder primär den mächtigen Staaten offen – die Möglichkeit, dass eine Gruppe afrikanischer Staaten die Situation in Nordirland oder dem Baskenland, in Tschetschenien, Kaschmir oder Teilen von New York oder Los Angeles unter bestimmten Bedingungen zur Rechtfertigung humanitären Eingreifens nehmen könnte, wäre zu absurd, um ernsthaft erwogen zu werden. Die Großmächte – heute insbesondere die USA – können in Somalia, dem Kosovo oder Afghanistan „humanitär“ intervenieren, aber nicht umgekehrt, auch wenn dies einmal sachlich berechtigt sein sollte.

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma besteht offensichtlich darin, die Definitions- und Implementationsmacht für humanitäre und andere Interventionen sowie einer Einschränkung nationaler Souveränitäten den einzelnen Staaten und Staatengruppen zu entziehen und bei einer unabhängigen und neutralen Instanz zu zentralisieren – vergleichbar der Herstellung eines Gewaltmonopols des Staates innerhalb von Gesellschaften. Eine solche Instanz kann nach Lage der Dinge nur die UNO sein. Bei der tatsächlichen Übertragung solcher Macht auf die UNO – die sie theoretisch und juristisch ja zum Teil bereits besitzt, schließlich liegt das internationale Gewaltmonopol völkerrechtlich bereits bei ihr – entstehen die bekannten Probleme: die großen Mächte müssen dies als Einschränkung ihrer Macht begreifen und werden sich dem widersetzen; weiterhin ist die UNO aufgrund ihrer eigenen „Vermachtung“ und ihrer Fehlkonstruktion (etwa des oligarchischen Charakters des Sicherheitsrates und der Veto-Macht der fünf Siegermächte des Zweiten Weltkrieges) nur eine prinzipiell, aber nicht immer in der Realität unabhängige und neutrale Instanz und müsste erst zu einer solchen umgestaltet werden. Die praktischen Probleme liegen auf der Hand.

Eine Reduzierung der politischen und völkerrechtlichen Schutzvorschriften gegen militärische Interventionen unter „humanitären“ Vorzeichen wäre so lange ein schwerer Rückschlag für die Stärkung globaler Werte und Normen zur Gewaltreduzierung, wie diese nicht durch andere, bessere Schutzmechanismen ausgeglichen würde. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass solche „humanitär“ legitimierten Aufweichungen des Völkerrechts vor allem ein zusätzliches politisches und juristisches Instrument starker Länder gegen schwache darstellen könnten: militärische Interventionen – Krieg – würde prinzipiell leichter möglich, wenn man dafür nur humanitäre Rechtfertigungen nennt. Wir wissen aber aus zahlreichen Erfahrungen, dass Rechtfertigungen für Krieg von Seiten seiner Protagonisten kaum jemals an der Wahrheit, sondern an der Nützlichkeit der Argumente orientiert sind. Deshalb ist das prinzipielle und umfassende Gewaltverbot der UNO-Charta zwar keine perfekte Lösung – zumindest, solange die UNO nicht als unabhängige und eigenständig handlungsfähige Institution funktioniert – aber doch das beste vorhandene Bollwerk einer sich bildenden globalen Kultur der Kriegsvermeidung gegen die utilitaristische Versuchung, Krieg als Mittel politischer Auseinandersetzung zu erhalten und zu rehabilitieren.

 

Fazit und Schlussfolgerungen.

Die internationale Politik hat seit 150 Jahren, verstärkt seit 1945, einen Weg der globalen Wertebildung und der Verrechtlichung dieser Werte und Normen beschritten. Dieser Prozess stellt einen beispiellosen zivilisatorischen Fortschritt dar, der aufgrund des allgemeinen Globalisierungsprozesses weiter vorangetrieben werden kann. Er wurde allerdings in der Vergangenheit durch entweder anti-zivilisatorische Ideologien und Wertesysteme (wie Faschismus und Stalinismus, Sozialdarwinismus oder religiösen Fanatismus) oder durch ein reines Zweckmäßigkeitsdenken, ein bloßes Kosten-Nutzen-Kalkül der eigenen Machtinteressen zurückgedrängt oder durchbrochen. Die erste Bedrohung stammt von politischen Fanatikern, die ihre Ideologien einer globalen Kultur- und Werteentwicklung über- oder entgegenstellten; die zweite von politischen Technokraten, die vorgeblich „wertfrei“ allein an der Durchsetzung ihrer Partialinteressen interessiert sind und Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit – auch in der Anwendung militärischer Gewalt – zurückweisen.

Dieser Konflikt zwischen der Bildung einer gemeinsamen Weltkultur der Gewaltverminderung durch Verrechtlichung von Konfliktregelungen auf der Basis gemeinsamer Werteelemente, die aus den Erfahrungen der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts entspringen, und einer starken Politikströmung, die auf das nützliche Instrument des Krieges im eigenen Interesse nicht verzichten möchte, wird noch Generationen weitergeführt werden. Er ist zum Teil politischen Charakters, aber auch ein kultureller Konflikt, ein „Clash“ zwischen zwei Kulturentwürfen, der quer zu den Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten verschiedener ethnischer oder religiöser Gruppen liegt. Dazu kommen immer wieder die Ausbrüche ideologischer Extremisten, die durch ihre Normverletzungen und rhetorischen Übertreibungen besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie sind beinahe so gefährlich für die globale Bildung humanitärer Wertesysteme wie die machtpolitischen Technokraten, aber anfälliger für ideologische Konjunkturen. Beide Strömungen können aber stark genug sein, die Entwicklung einer den Krieg tabuisierenden Weltkultur immer wieder um einige Jahrzehnte zurückzuwerfen.

Politische Zukunftsgestaltung in diesem Zusammenhang sollte sich darauf konzentrieren, den Trend der globalen Bildung humanitärer und gewaltminimierender Wertesysteme und deren völkerrechtlichen Kodifizierung zu unterstützen und gegen eine neue Tendenz der Aushöhlung des Völkerrechts zu verteidigen. Die bestehenden globalen Normensysteme bilden einen historischen zivilisatorischen Fortschritt, bleiben aber prekär. Sollte sich der Bestand humanitärer globaler Werte und Normen dem Angriff einer neuen Kultur des Völkerrechtsbruchs ausgesetzt sehen – und nicht allein die Kriege gegen Serbien und den Irak deuten darauf hin -, dann wäre das nicht allein ein schwerer friedenspolitischer Rückschlag, sondern auch ein politischer Kulturbruch und eine Erschwernis bei der Lösung anderer globaler Fragen, wie etwa in der globalen Umweltpolitik.

 

 

Literatur

 

  • Hippler, Jochen, Wissen, Kultur und Identitäten: Trends und Interdependenzen, in: Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2002 - Fakten, Analysen, Prognosen, hrsg. von Ingomar Hauchler, Dirk Messner, Franz Nuscheler, Frankfurt  2001, S. 135-155
  • Hippler, Jochen, Die Quellen des Terrorismus - Hinweise zu Ursachen, Rekrutierungsbedingungen und Wirksamkeit politischer Gewalt, in: Friedensgutachten 2002, hrsg. von Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Rasch, Christoph Weller, für das Institut für Friedenspolitik und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH), die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Bonn International Center for Conversion (BICC) und Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Juni 2002
  • Kimminich, Otto / Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, Stuttgart 2000
  • Kreß, Claus, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht nach der Satzung der Vereinten Nationen bei staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater, Berlin 1995
  • Pierson, Christopher, The Modern State, London 1996
  • Schindler, Dietrich / Kay Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, Heidelberg 1986
  • Wilss, Wolfram (Hrsg.), Weltgesellschaft, Weltverkehrssprache, Weltkultur. Globalisierung versus Fragmentierung, Stauffenburg 2001
  • Vereinte Nationen, Charta der Vereinten Nationen, San Francisco, 1945, http://www.uno.de/charta/charta.htm

 

Quelle:

Jochen Hippler,
Globale Werte, Völkerrecht und zwischenstaatliche Gewalt
in: Globale Trends 2004/2005 - Fakten, Analysen, Prognosen,
hrsg. von Ingomar Hauchler, Dirk Messner, Franz Nuscheler für die Stiftung Entwicklung und Frieden, Frankfurt  2003, S. 83-97

 

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