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Jochen Hippler
Der 11. September ereignete sich in einer Zeit politischer Umbrüche im internationalen System. Die Zeit des Kalten Krieges war von einer doppelten Struktur gekennzeichnet: einerseits einer offensichtlichen Bipolarität, die das politische Denken bestimmte und auch die Begriffe („Ost- West-Konflikt“) prägte. Hinter dieser Grundstruktur allerdings vollzog sich in den fünfziger bis neunziger Jahren ein schrittweiser und behutsamer Wandel zu einer verdeckten Multipolarität: Waren die USA noch in den fünfziger Jahren die im Westen allein dominierende Macht, differenzierte sich durch den Wiederaufstieg Japans und der Bundesrepublik Deutschland, durch die Entwicklung der EWG/EG/EU und die Stärkung anderer Akteure (etwa in Südostasien) die internationale Machtstruktur. Im Verlaufe des Kalten Kriegs war die bipolare Grundstruktur im Begriff, sich multipolar aufzufächern, wenn die USA auch noch der mit Abstand wichtigste Akteur blieben. Das Ende des Kalten Krieges führte in diesem Kontext zu den folgenden Ergebnissen: erstens der plötzlichen Beseitigung der bipolaren Grundstruktur durch Wegfall eines der beiden Pole: der Sowjetunion und ihres „Lagers“, zweitens aber auch zur Schwächung der multipolaren Tendenz in der Weltpolitik, indem die USA als primärer Sieger im Kalten Krieg für einen historischen „unipolaren Augenblick“ (der durchaus eine oder zwei Generationen dauern kann) zur letzten und einzigen Supermacht wurden. Der Weg von der Bizur Multipolarität führt über eine historische Phase der Unipolarität, in der die USA als letzte und einzige Supermacht das internationale System dominieren. Washington selbst reagierte auf diese neue Situation zuerst mit einer unsicheren Mischung aus unilateraler und multilateraler Politik und vagen Vorstellungen von einer „Neuen Weltordnung“ (unter Präsident Bush sen.), in der ersten Hälfte der ersten Amtszeit Präsident Clintons mit verstärktem Multilateralismus, um dann – und verstärkt unter George W. Bush – zu einer Politik der robusten Interessensdurchsetzung und eines hemdsärmeligen Unilateralismus überzugehen.1 Die USAgenda wurde mit beispielhafter Klarheit vom ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater Brzezinski formuliert: Es gehe darum, die aktuelle USDominanz noch möglichst lange in die Zukunft zu verlängern, bevor sie von einem unvermeidlichen multilateralen System abgelöst werde.2 Auch in diesem Kontext entwickelte sich seit Mitte der neunziger Jahre die Vorstellung von „Schurkenstaaten“, denen die USA entgegentreten müssten – weiße Flecken auf der Landkarte globaler USDominanz, die es zu verkleinern oder zu beseitigen gelte. Die häufigen Luftangriffe Washingtons gegen den Irak in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und die gegen Afghanistan sowie den Sudan (1998) gehören in diesen Zusammenhang. Der Terrorismus des 11. September erfolgte zu einem historischen Zeitpunkt, an dem sich diese Situation verfestigte, er war vor allem ein Angriff auf die Symbole US-amerikanischer Weltmacht: auf das Pentagon (als Symbol der militärischen Macht der USA), das World Trade Center (als Symbol ökonomischer Macht) und das Weiße Haus (als Symbol der politischen Macht, als Ziel des vorher abgestürzten Flugzeugs). Washington reagierte darauf mit einem globalen „Krieg gegen den Terrorismus“, der mehrere Funktionen zugleich erfüllte: die tatsächliche Jagd auf Terroristen und ihre Hintermänner, diese diente aber auch als Vorwand, sowohl die eigene Position im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien als auch die eigene, globale Führungsrolle auszubauen. Eine der zentralen Bedeutungen des 11. September für die internationalen Beziehungen lag darin, eine expansivere Politik der Bush-Administration im Nahen Osten und Zentralasien politisch zu rechtfertigen und so zu erleichtern, ohne dass diese Terroranschläge dafür ursächlich verantwortlich gewesen wären: Schließlich hatten die zentralen Akteure der Bush-Administration schon lange vor ihrem Amtsantritt – und lange vor dem 11. September – auf einen Krieg gegen den Irak und eine „Neuordnung“ des Nahen Ostens gedrängt.4 Innen- und außenpolitisch allerdings wurde eine solche Politik durch die Terroranschläge wesentlich erleichtert. Deshalb wurde der Krieg gegen den Irak mit Nachdruck als Bestandteil des „Krieges gegen den Terror“ dargestellt, wodurch die internationale Anti-Terror-Koalition nach dem 11. September überdehnt und in Frage gestellt wurde, da viele ihrer Mitglieder dem nicht folgen konnten. Der Irakkrieg beseitigte ein widerliches Regime in Bagdad, unter dem die irakische Bevölkerung lange und schwer gelitten hatte. Allerdings stellte die Baath-Diktatur seit dem Golfkrieg von 1991 keine ernsthafte Bedrohung für die Region mehr dar: Nach innen von großer Brutalität war sie politisch und militärisch nach außen kein ernsthafter Machtfaktor mehr. Der Irak war für die Region – im Gegensatz zur Zeit vor 1990/91 – keine regionale Bedrohung, kein Faktor der Instabilität mehr. Versuche Washingtons, durch die Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, oder andere Erfindungen (etwa die vorgebliche Zusammenarbeit Saddam Husseins mit Al-Qaida) den Irak als globale Bedrohung darzustellen, waren Propaganda zur Rechtfertigung der eigenen Politik. Der Irakkrieg und die Terroranschläge des 11. September haben den ohnehin schwierigen westlich- muslimischen Beziehungen einen schweren Schlag versetzt. Das wechselseitige Misstrauen nahm noch zu: Im Westen verstärkte der Terrorismus trotz der eigenen ungeheuren Überlegenheit die Bedrohungsgefühle, während in der muslimischen Welt der Irakkrieg und die militärische Besetzung dieses Landes zu einer Zunahme der Gefühle der Demütigung und Hilflosigkeit führten. Beide vertieften auch die Kluft zwischen vielen Regierungen der Region und ihrer Bevölkerung, da diese Stimmung der notwendigen Kooperation mit Washington massiv widersprach und so zur weiteren Delegitimierung vieler prowestlicher Regierungen beitrug.6 Die innerwestlichen Beziehungen gerieten nach der kurzen Phase der Solidarisierung mit Washington aufgrund des 11. September durch den Irakkrieg in eine krisenhafte Lage: Washington begann eine scharfe Kampagne gegen „Old Europe“, mit zum Teil absurden Vorwürfen, indem beispielsweise Deutschland mit Nordkorea und Libyen verglichen wurde. Die Bush-Administration war zutiefst verärgert, dass Frankreich, Deutschland und andere Länder sich nicht nur dem Krieg gegen den Irak verweigerten, sondern darüber hinaus eine entsprechende UNO-Resolution verhinderten. Letztlich drehte sich der Konflikt allerdings darum, dass sich zahlreiche Länder der globalen Führung der einzigen Supermacht nicht unterordnen wollten, während umgekehrt einige US-Verbündete den Krieg nicht ablehnten, weil sie am Irak oder dem Völkerrecht besonderes Interesse hatten, sondern sich von den USA mit Geringschätzung behandelt und nicht ernst genommen fühlten. Die dabei entstandenen Schäden wurden trotz diplomatischer Bemühungen bis zum Jahresende 2003 nicht überwunden, wie die Entscheidung Präsident Bushs demonstrierte, beimWiederaufbau des Irak nur Firmen aus Ländern zu beteiligen, die am Krieg teilgenommen oder die USA unterstützt hatten. Zusätzlich zu den transatlantischen Beziehungen beschädigte der Streit um den Irakkrieg aber auch die innerhalb Europas. Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg als Kriegsgegner, Großbritannien, Spanien, Italien, Polen und eine Reihe andere Länder Ost- und Ostmitteleuropas als Unterstützer der USA standen einander diametral gegenüber. Wenn die dortigen Verstimmungen auch nicht so tief gingen wie bei den transatlantischen Auseinandersetzungen, so blieben sie doch nicht folgenlos und gestalteten die Lösung einiger europäischer Fragen (etwa bezüglich der französisch- deutschen Initiative zur größeren militärischen Handlungsfähigkeit der EU) schwierig. Der Krieg der USA gegen den Irak und seine Folgen als Teil des US-amerikanischen „Krieges gegen den Terrorismus“ haben die internationalen Beziehungen dramatisch beeinflusst: Beide haben massive Auswirkungen auf die Regionen des Persisch- Arabischen Golfs und auf den Nahen und Mittleren Osten. Die Auswirkungen hängen darüber hinaus auch von der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage und dem Erfolg einer zukünftigen irakischen Regierung (und der weiteren Entwicklung in Palästina) ab. Das Verhältnis „des Westens“ (beziehungsweise seiner Führungs- macht) zu den muslimisch geprägten Ländern und Gesellschaften und zur Dritten Welt ist weiter erschwert, das Misstrauen ist noch gewachsen. Der Krieg und die Besetzung des Irak haben aber auch die transatlantischen Beziehungen schwer beschädigt und von einem schwierigen zu einem krisenhaften Verhältnis entwickelt, und sie haben innerhalb Europas neue Gräben aufgeworfen. Dies hat zu einer Belastung des Integrationsprozesses und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit geführt. Und schließlich hat der Irakkrieg auch den gemeinsamen Rahmen der internationalen Beziehungen schwer geschädigt: Das Völkerrecht und die Vereinten Nationen sind nicht ohne Blessuren aus dem Konflikt hervorgegangen. Bei dieser negativen Bilanz darf man allerdings nicht den Fehler machen, die Ursachen beim Irakkrieg allein zu suchen. Viele seiner destruktiven Folgen entsprangen nicht ihm selbst, sondern waren das Ergebnis grundlegenderer Veränderungen, die ihn in dieser Form erst ermöglichten, etwa der unipolaren Struktur des internationalen Systems nach dem Ende des Kalten Krieges und der Politik des neuen Unilateralismus Washingtons. Als zentrales Ergebnis der Reaktion auf den 11. September, des „Anti-Terror-Krieges“ und der Kriege in Afghanistan und dem Irak bleibt festzuhalten, dass die USA ihre Machtposition im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien massiv ausbauen konnten, dass die Region inzwischen mit einem Netz US-amerikanischer Militärstützpunkte überzogen ist, das von der Türkei und Ägypten über den Persisch- Arabischen Golf bis zu Ländern wie Usbekistan, Kirgistan und Pakistan reicht. Für diese massive Machtausdehnung mussten die USA allerdings einen hohen Preis bezahlen: mit einer verstärkt unsicheren Situation in der Region, einer Verschlechterung der Beziehung zu einigen Schlüsselverbündeten, der Schwächung von UNO und Völkerrecht und einem weltweit gewachsenen Misstrauen gegenüber den Absichten und Mitteln einer verstärkt unilateralen Politik der USA.
1 Vgl. Jochen Hippler, US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen System – Strategische Probleme und Grenzen von Global Governance, in: ders./Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF-Report 70, Duisburg 2003.
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