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Jochen Hippler

Der Aufstieg des "Islamischen Staates"

 

Der "Arabische Frühling", der Ende 2010 mit dem Sturz des langjährigen tunesischen Diktators Ben Ali begann und bald auch den ägyptischen Präsidenten Mubarak zu Fall brachte, weckte Hoffnung auf eine grundlegende Umgestaltung des Nahen und Mittleren Ostens. An die Stelle jahrzehntelanger Diktaturen schienen stärker demokratische oder zumindest pluralistischere Regierungsformen zu treten, erzwungen durch breite Massenbewegungen. Jihadistische und gewalttätig islamistische Gruppen schienen an den Rand gedrängt: Die friedlichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten zeigten, dass breite Massenbewegungen ohne Gewalt in wenigen Wochen erreichen konnten, was die Jihadisten in Jahrzehnten nicht mit terroristischen Mitteln zustande gebracht hatten: den Sturz der Diktaturen. Dieser Trend zu mehr Pluralismus und größeren Freiheitsrechten kam mit den Bürgerkriegen in Libyen und Syrien zum Stehen.

Seitdem ist Ernüchterung eingekehrt. Spätestens seit 2014 wird die Diskussion vor allem vom "Islamischen Staat" bestimmt. Damit stehen nicht länger Demokratisierung, friedliche Proteste und Reformen im Vordergrund, sondern politische Gewalt, Krieg, Terrorismus und religiöser Extremismus.

Der "Islamische Staat" entstand über längere Zeit als Ergebnis von Zusammenschlüssen oder Konfrontationen mit anderen jihadistischen Gruppen. Ausgangspunkt seiner Entwicklung war die Gründung von Bayat al-Imam (Oath of Allegiance to the Prayer Leader) Mitte der 1990er Jahre. 1999 gründete ihr Anführer, Abu Musab al-Zarqawi (geboren in Jordanien, jihadistische Erfahrung in Afghanistan) die "Organization of Monotheism and Jihad". Es handelte sich um ein internationales jihadistisches Netzwerk , dessen Grundlagen er in einem jordanischen Gefängnis gelegt hatte, konzentriert sich aber sehr bald auf den Irak, wo zu Beginn eine Zusammenarbeit mit Ansar al Islam (Helpers of Islam) bestand, einer Jihadistengruppe im kurdischen Nordirak mit Verbindungen zu al Qaida. Mit der US-Okkupation des Irak verlagerte Zarqawis Gruppe ihren Schwerpunkt in die arabisch-sunnitischen Siedlungsgebiete im Westen und Nordwesten des Irak. Dort erwarb die Gruppe bald den Ruf besonderer Brutalität. Enthauptungen politischer Gegner und Massaker an Schiiten wurden zu ihrem Markenzeichen.

2004 erklärte Zarqawi seine Loyalität zu Usama bin Ladin und al Qaida und benannte seine Organisation um in "The Organization of Jihad's Base (Qaidat) in Mesopotamia". Der meist benutzte Name für die Gruppe war "Al Qaida im Iraq" (AQI), auch wenn sie selbst diesen nicht benutzte. Anfang 2006 verschmolz "Al Qaida im Iraq" mit fünf anderen Gruppen von Aufständischen im Irak zum "Mujahideen Shura Council". Ab 2005 kam es zu politischen Konflikten zwischen der al Qaida Zentrale um Usama bin Ladin und seinem Stellvertreter und späterem Nachfolger Ayman al Zawahiri um die Strategie im Irak. Insbesondere Zawahiri kritisierte aus taktischen Gründen die Gewaltexzesse von AQI, etwa die ins Internet eingestellten Enthauptungen und Massaker in schiitischen Moscheen. Dies würde die eigene - sunnitisch-arabische Bevölkerung - von AQI entfremden und so den Jihad schwächen. Dies sollte sich wenig später bewahrheiten. Al Qaida im Irak wies die Kritik von al Qaida zurück und ließ sich von seinen brutalen Praktiken nicht abbringen. Nach Zarqawis Tod einige Monate später durch einen US-Luftangriff kam es zum Zusammenschluss mit weiteren jihadischen Gruppen im Irak zum "Islamischen Staat Irak" (ISI). Damit hatte der irakische Zweig von al Qaida den Schritt getan, sich nicht länger als politisch-religiöse Gruppe, sondern als "Staat" zu definieren - wenn auch vorläufig noch auf den Irak beschränkt. Dies traf bei anderen salafistischen und jihadistischen Gruppen aus ideologischen und machtpolitischen Gründen auf häufigen Widerspruch.

Spätestens ab 2006 formierte sich in der Provinz Anbar und in weiteren Teilen der sunnitisch-arabischen Siedlungsgebiete organisierter Widerstand gegen AQI bzw. ISI. Frühere Aufständische, sunnitische Stämme und Teile der Zivilgesellschaft hielten den Islamischen Staat im Irak nicht länger für das kleinere Übel, sondern betrachteten ihn zunehmend als brutale Besatzungstruppe, die schlimmer war als die irakische Regierung und die US-Truppen. Die Brutalität und Kompromisslosigkeit von ISI führte dazu, dass große Teile der arabischen Sunniten Jagd auf den al Qaida Ableger machten, viele deren Aktivisten und Kämpfer töteten und Informationen an das irakische Militär und die US-Truppen weiterleitete. In relativ kurzer Zeit wurde der Islamische Staat im Irak entscheidend geschwächt, die Gewalt im Irak sank um 95 Prozent. Die massive Stärkung der irakischen Sicherheitskräfte und die kurzzeitige Aufstockung der US-Militäreinheiten ("Surge") verstärkten diesen Trend. "By early 2008, 2,400 ... members had been killed and 8,800 captured—greatly diminishing its active membership, previously estimated at 15,000. Meanwhile the flow of foreign fighters into Iraq had withered from 120 per month to 45 per month and by 2009 only five or six entered Iraq each month". (Kirdar 2011, p. 5)

Seit April 2010 wurde der stark geschwächte ISI von Abu Bakr al-Baghdadi geführt. Im Zuge des syrischen Bürgerkrieges expandierte ISI seit dem Sommer 2011 in die östlichen Gebiete Syriens. Dabei konnte man sich auf Zellen stützen, die bereits in den frühen und mittleren 2000er Jahren von Zarqawi in Syrien etabliert, seit 2007 aber vom syrischen Regime wesentlich geschwächt worden waren. Die führende Rolle übernahm Abu Mohammad al-Jawlani, der vermutlich syrische Wurzeln hat und eng mit Zarqawi und al Baghdadi verbunden war. Mit Unterstützung des ISI gründete er (offiziell ab Januar 2012) die al Nusra Front, die bald und bis zum Aufstieg des "Islamischen Staates" zur kampfkräftigsten Gruppe von Aufständischen aufstieg.

ISI benannte sich im April 2013 in "Islamischer Staat in Irak und (Groß)-Syrien" (ISIS) um. Zugleich erklärte al Baghdadi, dass die Nusra Front von ISI gegründet, finanziert und unterstützt worden sei und proklamierte eine Fusion beider Organisationen unter seiner Führung. Nusra-Chef al-Jawlani wies den Zusammenschluss öffentlich zurück und verweigerte insbesondere die Unterordnung unter Baghdadi und seine ISIS. Im Februar 2014 kam es zum öffentlichen Bruch von ISIS mit al Qaida, wofür Meinungsverschiedenheiten über die Strategie und der Konflikt mit der Nusra-Front verantwortlich waren, die von al Qaida gegen ISIS unterstützt wurde. Daraufhin änderte ISIS im Juni 2014 erneut seinen Namen: Er proklamierte ein "Kalifat" und wählte für sich die Bezeichnung "Islamischer Staat" (IS), um den Anspruch auf die politische und religiöse Führung aller Muslime zu unterstreichen. Abu Bakr al-Baghdadi wurde zum "Kalifen" ausgerufen.

Die Ausrufung eines Kalifats bedeutete dreierlei: Einmal demonstrierte es noch einmal den Anspruch, eine theokratische Herrschaft, einen "Islamischen Staat" nicht nur anzustreben, sondern bereits zu sein; zweitens stellte man sich damit in die Tradition der historischen islamischen Kalifen, insbesondere der direkten Nachfolger des Propheten Mohammed. Man beanspruchte damit nicht nur irgendein islamischer Staat zu sein, sondern der Islamische Staat für alle Rechtgläubigen. Und drittens bedeutete die Ausrufung des Kalifats den Ausdruck eines globalen Führungsanspruchs gegenüber allen Muslimen und muslimischen Gruppen, Organisationen und Staaten. Der neue "Kalif des Islamischen Staates" verlangte von allen Muslimen Gefolgschaft und Unterordnung. Dieser Anspruch war einerseits global, richtete sich aber insbesondere gegen die jihadistische Konkurrenz von al Qaida. Als Ergebnis des Machtkampfes mit al Qaida verweigerte der Islamische Staat nicht nur die Unterordnung unter die Führung al Qaidas, sondern bestand auf dessen Unterwerfung. In der Konkurrenz der beiden jihadistischen Organisationen definierte sich nun eine Organisation (al Qaida) als politisch-religiöse, die andere als göttlich legitimierter Weltstaat. Dieser ideologische globale Allmachtsanspruch entfaltet seine Bedeutung primär regional, insbesondere in Syrien und dem Irak, inzwischen aber auch in Ägypten, Libyen oder Algerien. Tatsächlich ist es dem IS bisher allerdings nur in Syrien und dem Irak gelungen, staatsähnliche Strukturen aufzubauen [vgl. Abbildung 1]. In nur drei Jahren gelang es dem IS, dort große Gebiete unter Kontrolle zu bringen. Sein Regierungssystem trägt keinen "Netzwerk"-Charakter, wie man ihn bei vielen anderen jihadistischen Organisationen beobachtet, sondern ist hierarchisch und straff organisiert, auch wenn es regionale Elemente enthält. Der IS hat ein eigenes Rechtswesen aufgebaut, verfügt über einen Geheimdienst, eine Art Generalstab, ein System zur Steuereintreibung, organisiert einen Finanzausgleich zwischen reichen und ärmeren "Provinzen", unterhält ein soziales Unterstützungswesen, ein zentrales und in jeder "Provinz" eine Propagandabehörde und ein professionelles Personalmanagement und eine ebensolche Finanzbuchhaltung, um einige zentrale Punkte zu nennen. Tatsächlich liegt im staatsähnlichen Charakter der Organisationsstrukturen und Handlungsweisen des IS ein Grund seiner Effizienz und seiner Kontrolle über riesige Gebiete - zugleich stellt dieser allerdings unter veränderten Bedingungen auch seine Achillesferse dar. Wenn seine bürokratisch-hierarchische Struktur zerschlagen oder wesentlich geschwächt würde, dürfte der IS in eine Reihe von Mafia-ähnlichen Banden und Warlord-Strukturen zerfallen, die zu regionaler Instabilität führen, die aber keinen regionalen Machtanspruch mehr stellen könnten.

 

<Abbildung 1> (nur in der Druckfassung)

 

Gegenwärtig ist der "Islamische Staat" der wichtigste Anziehungspunkt für internationale Jihadisten. Die überwältigende Mehrheit ausländischer Kämpfer schließt sich ihm an, der Rest verteilt sich auf alle anderen jihadistischen Gruppen. Die Gesamtzahl ausländischer jihadistischer Kämpfe allein in Syrien dürfte in den drei ersten Kriegsjahren bei über 12.000 gelegen haben, im November 2014 schätzte Barrett die Zahl der ausländischen Kämpfer des Islamischen Staates in Syrien und dem Irak auf 15.000 (Barrett 2014b, 16). Die Meisten stammen aus dem Nahen und Mittleren Osten, dicht gefolgt von jenen aus dem Maghreb und Nordafrika (Barrett 2014a, 14, 13). Aber auch aus Europa dürften inzwischen schätzungsweise 2-3000 Kämpfer an den Kriegen in Syrien und dem Irak teilnehmen (berechnet nach Saltman/Winter 2014, 45), davon nach Angaben des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, allein etwa 550 aus Deutschland (Die Welt 2014). Die Gründe für die hohe Zahl ausländischer Kämpfer sind komplex - es lassen sich Push- und Pull Faktoren unterscheiden. Einerseits bestehen in den Ursprungsländern Gründe für jihadistische Radikalisierung, die aus den dortigen sozialen und politischen Verhältnissen entspringen. Diese können durchaus säkularer Natur sein, etwa Entfremdung und mangelnde Integration in den europäischen Gesellschaften, auch eine Gewaltfaszination identitätssuchender junger Männer. Hier entsprechen die Radikalisierungsmechanismen weitgehend denen europäischer Rechtsextremisten, die dann nur ideologisch anders zum Ausdruck gebracht werden. Die Pull-Faktoren bestehen vor allem aus drei Faktoren: Dem Wunsch, sich einem als "gerecht" angesehen Kampf anzuschließen, wie dem gegen die syrische Diktatur Bashar Asads; dem ideologischen Anspruch des "Islamischen Staates", alle Muslime der Welt führen zu wollen und andere Gruppen an Konsequenz zu übertreffen; und schließlich spielt die Attraktivität des Erfolges eine Rolle: Es ist offensichtlich anziehender, sich einer ausgesprochen erfolgreichen und siegreichen Gruppen anzuschließen, als anderen, die auf der Stelle zu treten scheinen.

 

<Abbildung 2> (nur in der Druckfassung)

 

Trotz der Erfolge des IS um die Jahresmitte 2014 deutet schon heute einiges darauf hin, dass der IS den Höhepunkt seiner Staatsbildungsbemühungen bereits erreicht hat: Wie zuvor der Islamische Staat im Irak (ISIS) neigt auch der Islamische Staat (IS) dazu, durch exzessive Brutalität seine eigene potentielle und reale soziale Basis (sunnitische Araber in Syrien und dem Irak) gegen sich aufzubringen [vgl. Abbildung 2]. Die Massaker an sunnitischen Stammesmitgliedern und anderen haben bereits dazu geführt, dass sich in seinem Herrschaftsbereich erste Tendenzen zum gewaltsamen Widerstand von Sunniten beobachten lassen. Sollte sich dies verstärken, wäre der Versuch jihadistischer Staatsbildung am Ende, da ein Kampf gegen Schiiten, Kurden, kleinere Minderheiten und die internationale Koalition unter US-Führung aussichtlos würde, wenn der IS sogar die eigene, sunnitische Basis gegen sich aufbringt.

 

Literaturauswahl

  • Barrett, Richard 2014 a: Foreign Fighters in Syria, The Soufan Group, New York
  • Barrett, Richard 2014 b: The Islamic State, The Soufan Group, New York
  • Die Welt 2014: 60 Deutsche starben im Kampf für den IS - Verfassungsschutz rechnet mit Anschlägen hierzulande; online 24.11.2014: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article134645038/60-Deutsche-starben-im-Kampf-fuer-den-IS.html
  • Benotman, Noman / Roisin Blake o.J.: Jabhat al Nusra - Jabhat al Nusra li-ahl al Sham min Mujahedi al Sham fi Sahat al Jihad - A Strategic Briefing, The Quillian Foundation, o.O. (London), online: http://www.quilliamfoundation.org/wp/wp-content/uploads/publications/free/jabhat-al-nusra-a-strategic-briefing.pdf
  • Chulov, Martin 2014: How an arrest in Iraq revealed Isis's $2bn jihadist network, in: The Guardian, Sunday 15 June 2014 21.06 BST, online: http://www.theguardian.com/world/2014/jun/15/iraq-isis-arrest-jihadists-wealth-power/print
  • Ibrahim, Azeem 2014: The Resurgence of al-Qaida in Syria and Iraq, Carlisle Barracks: Strategic Studies Institute and U.S. Army War College Press
  • Jones, Seth G. 2014: A Persistent Threat - The Evolution of al Qa’ida and Other Salafi Jihadists, Rand Corporation, online: http://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR600/RR637/RAND_RR637.pdf
  • Kirdar, M. J. 2011: Al Qaida in Iraq, Center for Strategic and International Studies, Homeland Security & Counterterrorism Program, Case Study Number 1, Washington
  • Said, Behnam T. 2014: Islamischer Staat - IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden, München: C.H. Beck
  • Saltman, Erin Marie / Charlie Winter 2014: Islamic State: The Changing Face of Modern Jihadism, London: Quilliam Foundation
  • Terrill, W. Andrew 2014: Understanding the Strengths and Vulnerabilities of ISIS, in: Parameters Vol. 44(3), Autumn 2014, pp. 13-23, online: http://strategicstudiesinstitute.army.mil/pubs/parameters/issues/Autumn_2014/5_TerrillAndrew_Understanding%20the%20Strengths%20and%20Vulnerabilities%20of%20ISIS.pdf

 

Quelle:

Jochen Hippler, Der Aufstieg des "Islamischen Staates",
in: Globale Trends 2015 - Perspektiven für die Weltgesellschaft, hrsg. von Michèle Roth, Cornelia Ulbert und Tobias Debiel, Frankfurt 2015, S. 59-66

 

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