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Jochen Hippler
Anmerkungen zu einem interkulturellen Dialog zwischen dem Westen und dem Nahen und Mittleren Osten
Bundespräsident Roman Herzog hatte Ende Oktober 1995 einen Brief an prominente „Vertreter des öffentlichen Lebens aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur“ geschrieben. Darin grenzte er sich von dem „leichtfertigen Szenario“ eines Clash of Civilizations ab, durch das Konflikte erst herbeigeredet würden. Statt dessen bat er die Empfänger seiner Briefe, über Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen der Welt nachzudenken, und „mit Nachdruck zur Förderung des Dialogs zwischen den Kulturen beizutragen.“ Obwohl das Wort in seinem Brief nicht vorkam, machte der Bundespräsident doch deutlich, daß es ihm vor allem um einen Dialog mit dem islamischen Kulturkreis ging. Die Initiative des Bundespräsidenten erfolgte in schwierigem Gelände. Während die Ausländerfeindlichkeit ihre Opfer fordert und von der Boulevardpresse über die Konzelmänner bis zum Spiegel das Schaudern am Fremden - und vor allem am Islam - kultiviert wird, glaubt Außenminister Kinkel, einen „kritischen Dialog“ mit der Regierung des Iran zu führen. Als die ebenso verdienstvolle wie politisch naive Annemarie Schimmel wegen ihres Einsatzes für einen interkulturellen Dialog mit den Muslimen durch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wird, verordnen sich zahlreiche Intellektuelle demonstrativen Schaum vor dem Mund. Während die Verschiebung von Technologie für Massenvernichtungswaffen in den Nahen Osten durch deutsche Firmen traditionell und jahrelang durch intensives Ignorieren toleriert wird, pfeift der Bundestag den bedauernswerten Außenminister zurück, als dieser auf dem Petersberg eine internationale Islamkonferenz veranstalten möchte, und sich die Debatte auf die Einladung seines iranischen Kollegen konzentriert. Selbst in entlegenen Ländern wie Pakistan wird diese Absage in allerletzter Sekunde (manche Gäste saßen bereits im Flugzeug) auf den Titelseiten der Zeitungen berichtet.
Es gibt zwei Arten, über das Problem eines interkulturellen Dialogs nachzudenken: entweder geht man davon aus, daß er ohnehin im Gange ist. Schließlich stehen die Kulturen durch Migration, Wirtschaftsaustausch, Krieg und Informationstechnologien in engem Kontakt, und in einer solchen Situation findet unvermeidlich eine dichte Kommunikation statt. Wer also die wechselseitige Beeinflussung der beiden Kulturkreise seit den Kreuzzügen für eine Art naturwüchsigen “Dialog” halten möchte, dem kann kaum widersprochen werden. Die zweite Möglichkeit besteht darin anzunehmen, daß es trotz des gegenseitigen Austausches zu keinem wirklichen „Dialog“ kommt. Mein Wörterbuch definiert den Begriff als “von zwei od. mehreren Personen abwechselnd geführte Rede u. Gegenrede; Zwiegespräch, Wechselrede”. Der Dialogbegriff setzt danach die Absicht eines kommunikativen Austausches voraus, und nicht nur eine sich von selbst ergebende, unvermeidliche wechselseitige Einwirkung. Er impliziert auch eine gewisse Gleichrangigkeit der “Dialogpartner”: ein von einem Zuhörer erduldeter Monolog ergibt noch keinen Dialog. Kommunikation ist nicht automatisch Dialog. Das Problem des interkulturellen Dialoges - und hier beziehen wir uns ausschließlich auf ihn, insoweit er unseren eigenen und den islamisch geprägten Kulturkreis betrifft - kann daher von zwei Seiten betrachtet werden: entweder man unterstellt die Existenz eines solchen und reflektiert dessen Inhalt. Oder man stellt fest, daß die zweifellos zwischen beiden Seiten stattfindende Kommunikation gerade keinen dialogischen Charakter hat, daß ein (zumindest ernsthafter?) Dialog zwischen beiden Seiten fehlt.
Der pro-westliche Fundamentalismus Wie stellen sich also die beiden potentiellen Dialogpartner dar? Bei der Untersuchung dieser Frage gehen wir davon aus, daß - falls überhaupt - ein Dialog nicht zwischen den jeweiligen Gesellschaften als Gesamtsystemen, sondern vorwiegend zwischen den politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten geführt wird - wobei nahöstliche Migranten in Europa und Nordamerika eine Sonderstellung einnehmen. Auf Seiten der maßgeblichen Eliten des islamisch geprägten Raumes gibt es vor allem zwei Wahrnehmungsformen „des Westens“: einmal wird er als reich, fortschrittlich und mächtig betrachtet und ihm weitgehend kritiklos nachgeeifert. Der Westen ist das Vorbild, das leuchtende Beispiel, dem es nur möglichst ähnlich zu werden gelte. Diese Ansicht kann in einer naturwüchsigen Variante beobachtet werden, etwa als die bloße, “naive” Bewunderung des westlichen Reichtums, der technischen Möglichkeiten des Westens. “Eure Gesellschaft hat so etwas wunderbares wie das Flugzeug hervorgebracht!” - eine solche, vom Autor real erlebte Äußerung drückt dieses Empfinden aus. Die Armut gilt im Westen als überwunden und die Filme und Werbung des Satellitenfernsehens werden als Beweise für den allgemeinen westlichen Wohlstand genommen. Analyse oder Nachdenken sind angesichts dieser Wahrnehmung nicht mehr nötig: die Überlegenheit und der Vorbildcharakter des Westens ergeben sich direkt aus der Anschauung. Es gibt dies Ansicht aber auch in einer intellektuell verfeinerten, ideologisierten Form: wenn etwa Intellektuelle oder Staatsfunktionäre des Nahen und Mittleren Ostens die offensichtlichen Vorzüge des Westens mit der eigenen Rückständigkeit vergleichen, und den Unterschied auf eine “kulturelle Rückständigkeit” zurückführen. Von da her ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur den westlichen Wohlstand, sondern auch die westliche Kultur bewundern zu müssen. Tendenzen zur Selbstabwertung oder zum Selbsthaß der eigenen Gesellschaft sind nicht selten damit verknüpft. Die eigenen ökonomischen, sozialen und politischen Probleme würden durch Übernahme westlicher Vorbilder quasi automatisch verschwinden. Diese Richtung neigt dazu, westliche Denkweisen, Instrumentarien und Kulturelemente
Wenige Tage vor seinem Tod traf ich 1994 in Islamabad Kausar Niazi ,den Vorsitzenden des “Rates für Islamische Ideologie” der Islamischen Republik Pakistan, eines Organs mit Verfassungsrang. Auch wenn er gelegentlich eine eher zwiespältige Rolle spielte, so drückte er doch nicht selten einen breiten Konsens aus. Allow me also to say a few words about what we Muslims have taken from the West and how we should today look at the highly advanced but essentially materialistic culture of the Western world. Just as the West learned much from Islam, so we Muslims have been learning from the West during the last two centuries. Unfortunately, a considerable section of Muslims has been unduly overawed by the ascendancy of the West and is intent on imitating it in mere superficialities and externals. Without looking into the deeper foundations of the Western civilisation, and without taking into consideration the spiritual character of the culture of Islam and its brilliant past, these people go in for the wholesale imitation of the West and are unable to differentiate between its vices and its virtues. The outer glitter of Western culture has dazzled their eyes and they have become forgetful of their own glorious traditions and spiritual values. They have taken to drinking and gambling and have been attracted by sex liberty prevalent in the West. Such habits have created a wide gulf between their mode of living and that of the masses ,who are deeply attached to the Islamic virtues of sobriety, chastity and sexual continence. Thus the influence of the West on the Muslims has not been all to the good. We do not blame the West for this, because it is our own fault if we are unable to distinguish the bad from the good. What we should acquire from the West is its science and technology, its dedication to the pursuit of knowledge, its tradition of hard work and its attachment to democratic values. Instead of imitating the superficialities of the West, we should try to delve deep into its spirit and the principles which underlie the outer framework of its civilisation. If we do this, we shall be reverting to some of the noble and excellent aspects of our own past culture which have permeated into the West. However, the material progress of the West should be combined with the spiritual outlook of Islam and its moral values if the Muslim Society is to follow the right direction and avert the dangers with which Western civilisation is faced today. Such a synthesis of the material and spiritual aspects of life is inherent in the teachings of Islam. What the world needs today is a Society which has the material strength and prosperity derived from Western scientific knowledge, industrial progress and technological skill, but is, at the same time, rooted in the spiritual and moral values of Islam such as equality and brotherhood, freedom from racial and national prejudices, social justice, love of truth and toleration of religious and sectarian differences. If the world can achieve a synthesis of these two ingredients of a healthy and progressive Society, it can rid itself of the dangers that threaten to wreck its stability and progress. But if these two ingredients are not synthesised, and each goes its own way, the consequences may well nigh be fatal for the peace and progress of humanity. aus: Kausar Niazi, Islam and the West, Lahore 1976, S. 30-33
relativ bruchlos in den Nahen Osten importieren zu wollen - wodurch natürlich deren Bedeutung modifiziert wird: gleiche Dinge bedeuten in einem anderen Kontext nicht das Gleiche. Häufig wird so stärker die Form als die Substanz westlicher Lebenswelten übernommen, und auch diese muß aus politischen und kulturellen Gründen noch mit lokalkoloriertem Zuckerguß übergossen werden. Nicht selten besteht das Ergebnis dieser versuchten Übernahme westlicher Muster nicht in derem tatsächlichen Import, sondern in der Schaffung einer Karikatur des Westens. Reale Versatzstücke - etwa Konsummuster oder westliche Technikimporte - erlauben die Illusion, daß sich hinter diesem Zerrbild des Westens tatsächlich der Fortschritt verberge. Ein drastisches Beispiel ist die irakische Diktatur, deren politischer Kern bis zum zweiten Golfkrieg darin bestand, durch Ölgeld, westliche Technologie und staatliche Organisation und Zwang das eigene Land möglichst schnell zu entwickeln, zu modernisieren, zu „verwestlichen“ und dadurch zum regionalen Machtfaktor zu machen. Letztlich handelte es sich um ein System des europäischen Faschismus, das von einer im Westen ausgebildeten, effizienten Technokratenkaste gemanagt wurde. Zum Westen sollte mit dessen eigenen Mitteln aufgeschlossen werden, langfristig galt es, ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen. Hinter dem skrupellosen nationalen Egoismus der irakischen Führung verbarg sich immer eine heimliche und zum Teil offene Bewunderung Europas und Nordamerikas. Auch in milderen Diktaturen oder nahöstlichen Halbdemokratien ist dieses Muster eher die Regel, wofür Ägypten oder die Türkei als Beispiele dienen mögen.
Der Westen als Feind Die politische Alternative zur Bewunderung des Westens ist dessen Verteufelung. Diese intellektuelle Strömung hat insbesondere mit dem Niedergang des Arabischen Nationalismus - der ja selbst in gewissem Maße eine Adaptation westlicher Vorstellungen war - an Boden gewonnen. Sie gibt es in einer säkularen und einer islamistischen Strömung, wobei letztere gegenwärtig im Vorteil ist. Der anti-westliche Affekt stützt sich, wie sein pro-westlicher Zwillingsbruder, durchaus auf reale Erfahrungen und zutreffende Einschätzungen. So wird gern auf den europäischen Kolonialismus als antidemokratische Gewaltherrschaft verwiesen, auf das westliche Interesse an der Kontrolle der Energieressourcen der Region, an die Unterstützung der Regierungen in Washington, Paris und London für zahlreiche Diktaturen der Region. Diese und andere Vorwürfe sind berechtigt oder zumindest diskutabel. Der anti-westliche Affekt geht darüber allerdings hinaus: er nimmt solche Argumente oft nur zum Ausgangspunkt weitergehender ideologischer Muster, die sich von den Realitäten lösen. Verschwörungstheorien, Trotzreflexe, eine Belagerungsmentalität und andere Erscheinungen mischen sich mit zum Teil antisemitischen Politikmustern, die sich als antizionistisch verkleiden und mit der Politik Israels begründet werden. Der Westen wird als Lager des Imperialismus betrachtet, das die Welteroberung zum Ziel hat, er erscheint als machtpolitische, zugleich aber ideologisch-kulturelle Bedrohung, der auch nur auf beiden Ebenen begegnet werden könne. Die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens müssen danach stark, zugleich muß aber ihre Identität gefestigt werden. In diesem Kontext gewinnt der Islam besondere Bedeutung: er symbolisiert das Eigene, er ist nicht-westlich, er betont die Einheit der verschiedenen Klassen, Ethnien und Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens gegen die “christlichen” oder atheistischen Europäer/Nordamerikaner, er soll ein Bollwerk gegen deren ideologische Subversion darstellen.
Auffällig an der anti-westlichen Strömung ist, daß auch sie ein Element der Bewunderung enthält. “Dem Westen” wird nicht sein “moderner” Charakter vorgeworfen, und in aller Regel sind die Kritiker aus dieser Strömung das Gegenteil von Bilderstürmern. Meist werden der technische Fortschritt und die Wissenschaft des Westens nicht nur akzeptiert, sondern als anzustrebendes Vorbild betrachtet. Weder der Westen noch die Modernität seien als solche schlecht. Statt dessen werden zwei Vorwürfe erhoben: erstens wolle der Westen durch seine imperiale Politik die nahöstlichen, muslimisch geprägten Gesellschaften gerade von den Früchten des Fortschritts ausschließen, er wolle sie monopolisieren und als Machtinstrument für sich behalten. Zweitens aber lasse sich im Westen ein moralischer Verfall beobachten, ein Niedergang der Werte, und eine allgemeine Dekadenz greife um sich. Alkohol und Drogen, sexuelle Freizügigkeit, Homosexualität bei Männern und Frauen, Pornographie und andere Erscheinungen werden in diesem Kontext meist betont. Dem Westen wird also machtpolitisches Dominanzstreben plus moralischer Verfall vorgeworfen - wobei auffällt, daß der erste Vorwurf von vielen Linken in Europa und den USA, der zweite von vielen Rechten dort geteilt wird. Beide Vorwürfe werden im Nahen Osten dann aber gern und schnell mit der Vernachlässigung der Religion allgemein oder mit dem nicht (bzw. anti-) islamischen Charakter des Westens in Zusammenhang gebracht.
Die anti-westliche Ideologie im Nahen und Mittleren Osten kann in einem gewissen Sinne als Haßliebe begriffen werden, zum Teil als enttäuschte Liebe - ähnlich, wie der emotionale Anti-Amerikanismus in Europa. Ein eigentlich bewundertes Vorbild ist durch sein Handeln und seine Unterlassungen entzaubert worden, und der eklatante Widerspruch zwischen überspannten Erwartungen und einer tief enttäuschten Hoffnung führt zur emotionalen Besetzung dieser Fremdwahrnehmung. Im westlich-nahöstlichen Verhältnis wird diese Spannung durch die reale Erfahrung eines drastischen Machtungleichgewichtes weiter akzentuiert. Das früher bewunderte und heute gehaßte Gegenüber ist zugleich machtpolitisch von erdrückender Überlegenheit, eine Erfahrung, die sich von der Zeit des Kolonialismus bis zum zweiten Golfkrieg und der israelischen Politik in der Westbank und im Libanon immer wieder reproduziert hat. Die dauerhafte Unterlegenheit unter einen moralisch korrupten, aber machtbesessenen Gegner - so läßt sich die Weltsicht der meisten Vertreter dieser Strömung zusammenfassen.
Perzeptionsbedingungen Einige Dinge sind hier noch nachzutragen: erstens sind die pro- und die anti-westlichen Klischees nicht auf mangelnde Kenntnis des Westens zurückzuführen. Im Gegenteil: die Träger der beiden scheinbar so gegensätzlichen Strömungen verfügen oft über überdurchschnittliche Kenntnisse über und Erfahrungen mit “dem Westen”. Es ist keine Seltenheit, daß die Vertreter der entsprechenden ideologischen Eliten selbst länger im Westen gelebt haben oder dort ausgebildet wurden. Zweitens sollte daran erinnert werden, daß die Sichtweise des Westens durch die Bevölkerungsmehrheit - insbesondere der Landbevölkerung - sich von der ihrer Eliten graduell unterscheidet: sie scheint stärker pragmatisch und eher von Neugierde geprägt, dafür weniger ideologisiert zu sein. Je stärker allerdings die lokalen Eliten in einem Austausch mit der eigenen Bevölkerung stehen (das ist abhängig von den politischen Bedingungen, dem Alphabetisierungsgrad, Bildungsniveau, der Rolle religiöser Eliten, etc.), um so geringer dürften diese Unterschiede ausgeprägt sein. Drittens darf natürlich nicht vergessen werden, daß diese beiden hier idealtypisch unterschiedenen Strömungen nicht die einzigen Sichtweisen des Westens sind. Es gibt sowohl westlich geprägte, als auch lokal sozialisierte Elitengruppen, die weder zu pro-, noch anti-westlichem Fundamentalismus neigen, sondern sich erfolgreich um eine nüchterne Auslotung der Potentiale von Konflikt und Kooperation bemühen. Diese Sektoren gibt es in säkularem und religiösem Gewand, und sie wären die eigentlich attraktiven potentiellen Dialogpartner westlicher Akteure. Diese finden es allerdings oft bequemer, mit den prowestlichen Fundamentalisten, als ihren eigenen karikierten Spiegelbildern, einen “Dialog” zu führen.
Viertens darf nicht übersehen werden, daß die bisher benutzte Perspektive “nahöstliche Perzeptionen des Westens” sehr häufig nur vorgeschoben ist. In der Regel werden hinter dieser Fassade tatsächlich innenpolitische Kontroversen im Nahen Osten (oder im Westen) ausgetragen: man schlägt beispielsweise rhetorisch auf “den Westen” ein, um in Wirklichkeit deren lokale Bewunderer oder unabhängige, säkulare Intellektuelle zu treffen. Oder umgekehrt kann die Bewunderung des Westens durch lokale Eliten ein Mechanismus sein, sich von der (“rückständigen”) eigenen Bevölkerung abzukoppeln und sich demokratischer Rechenschaftspflicht dieser gegenüber zu entziehen. Der frühere Begriff “Entwicklungsdiktatur” für diesen Tatbestand ist etwas außer Mode gekommen. Schließlich muß daran erinnert werden, daß die Perzeption des Westens im Nahen und Mittleren Osten auch die Wahrnehmung von Konzepten der Demokratie und Menschenrechte prägt. Natürlich werden staatliche Morde, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen auch im Nahen und Mittleren Osten abgelehnt und nicht etwa als “Bestandteile der eigenen Kultur” gerechtfertigt. Die Tatsache, daß die Diktatoren der Region dies gern anders sehen, ändert daran nichts. Allerdings: die Begriffe von Demokratie und Menschenrechten werden im Nahen und Mittleren Osten nicht selten mit großer Skepsis betrachtet. Es handele sich um “westliche” Konzepte, die von den Staaten Europas und Nordamerikas benutzt würden, um ihre Vorherrschaft und Einmischungspolitik zu rechtfertigen. Der Westen selbst nehme diese Vorstellungen aber nicht ernst, er sei in Fragen der Menschenrechte und Demokratie scheinheilig und unglaubwürdig, verwende doppelte Maßstäbe nach politischen Nutzen - weshalb man in diese “Falle” nicht tappen dürfe. Durch diese Wahrnehmung haben es Menschenrechtsgruppen im Nahen Osten besonders schwer: Sie müssen ständig nachweisen, sich tatsächlich für die Menschen ihrer eigenen Länder zu engagieren, und nicht bloß der Menschenrechtsheuchelei westlicher Regierungen in die Hände zu spielen.
Das Nahost- und Islambild im Westen Die westliche Wahrnehmung der nahöstlichen Region zeichnet sich wie auch umgekehrt dadurch aus, daß auch sie Realitätsfragmente in einer Weise montiert, die ein eher fiktives Gesamtbild ergibt. Die durchschnittliche westliche Sichtweise betont das Fremdartige, das Trennende beider Kulturkreise. Sie stellt häufig die Religion (also den Islam) als das spezifisch Nahöstliche dar, und damit einen der Unterschiede. Trotz der eigenen erdrückenden Überlegenheit an Wirtschaftskraft, militärischer Kampfkraft und ideologischer Ausstrahlung wird der Nahe und Mittlere Osten (oft wahrgenommen als “der Islam”) als Bedrohung betrachtet - womit die Wahrnehmung des Westens aus der nahöstlichen Perspektive schlicht gespiegelt wird. Da die westliche Wahrnehmung und ihre Klischees vom Nahen und Mittleren Osten schon mehrfach kritisch beschrieben und analysiert worden sind, braucht dies hier nicht ausführlich getan zu werden. Das folgende Schaubild listet einige der Perzeptionsmuster auf, die bei uns gegenüber “dem Islam” angewandt werden.
Islam - Übersicht über einige Mechanismen der Feindbildproduktion 1. Vergleich unterschiedlicher RealitätsebenenEs wird "der Westen" mit "dem Islam" oder "den islamischen Staaten" verglichen, oder die gesellschaftliche Realität Europas und Nordamerikas mit einer religiösen Ideologie; es wird praktisch nie Islam und Christentum verglichen, nur selten Europa und der Nahe Osten. 2. Übernahme fundamentalistischer ErklärungsmusterNicht selten wird "der Islam" und seine Gefährlichkeit durch Zitate fundamentalistischer Führer "erklärt". Dabei übernehmen viele westliche Autoren fundamentalistische Positionen und tragen sie als "islamisch" weiter. Das gleiche Verfahren funktioniert auch ohne Zitate: dann werden die Positionen von Islamisten als "der wahre Islam" unterstellt. Beispiel: Religion und Politik seien im Islam nicht zu trennen. 3. religiöse Interpretation säkularer Politik / NaivitätErklärungen nahöstlich-islamischer Akteure werden zum Nennwert genommen. Die Benutzung religiöser Formeln wird automatisch als Zeichen von Religiosität aufgefaßt, die Möglichkeit einer bewußten Instrumentalisierung von Religion ignoriert. 4. Die Unterstellung dessen, was bewiesen werden sollAnstatt den Anteil und die Bedeutung religiöser Aspekte bei Politik im Nahen Osten zu untersuchen, wird von Vornherein eine religiöse Begründung unterstellt, um dann in einem zweiten Schritt den religiösen Charakter von Politik festzustellen. 5. Verwechslung von Islam als Religion und islamischer Kultur und TraditionDie Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens sind oft vom Islam kulturell geprägt. Diese Prägung ist in die Alltagskultur übergegangen. Viele scheinbar religiöse Äußerungen haben inzwischen mehr mit Tradition, mit kultureller Identität, auch mit Konservatismus zu tun als mit Religion. 6. Geschichtslosigkeit Ereignisse der Gegenwart brauchen nicht analysiert zu werden, da sie ja religiös zu erklären sind - und damit aus dem Koran und der Sunnah abgeleitet werden können. Die historischen Entstehungsbedingungen heutiger Erscheinungen werden durch Verweis auf die islamische Frühgeschichte ersetzt. 7. Verzicht auf Analyse von InteressenAktuelle Probleme oder Konflikte werden ohne Analyse sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Realitäten und Interessen durch "den Islam" erklärt, dabei der Islam auf seine Schriften und die Äußerungen seiner Theologen verkürzt 8. Kulturelle ÜberheblichkeitAus der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit des Westens über die Gesellschaften des Nahen Ostens wird die eigene kulturelle und moralische Überlegenheit geschlossen. 9. Das Verwenden unterschiedlicher MaßstäbeWas dem Westen erlaubt ist, kann dem Nahen Osten durchaus verboten sein: etwa ABC-Waffen, die im Westen friedenstiftend, anderswo gefährlich sind. 10.PsychologisierungWas im Westen "Machtpolitik" wäre wird im Nahen Osten leicht zur "Verrücktheit", "Größenwahn", "Irrationalität". Statt Interessenkonflikte werden psychologische Kategorien erörtert.
Für unseren Zweck reichen diese Wahrnehmungsmuster aber nicht aus. Es kommt vielmehr hinzu, daß der Nahe und Mittlere Osten - soweit er nicht romantisiert oder exotisch verklärt wird - als Quelle der Gefahr, der Instabilität und Unsicherheit wahrgenommen wird. Die Bewohner der Nahen Ostens sind Muslime, und sie seien irrational, unberechenbar, ihre Religion ist mittelalterlich, mit Fanatismus verknüpft und ihre Kultur durch ihre Andersartigkeit unverständlich. Auch hier müssen wir darauf verzichten, die Existenz dieser Karikatur einer benachbarten Region und ihrer Bewohner und Kultur durch zahlreiche Belege zu untermauern, da dies schon an anderer Stelle geschehen ist. Es mag an dieser Stelle genügen, nur einige Autoren mit unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Hintergründen zu erwähnen. Während sich der Westen insgesamt auf der Ebene der Außenpolitik von pragmatischem Dominanzstreben leiten läßt, seine Interessen nüchtern abwägt und sich vor allem auf die Gewährleistung von Stabilität, die Minimierung der Migration und die Kontrolle der Energieressourcen der Region konzentriert, lassen sich auf der ideologischen Ebene unterschiedliche Phänomene unterscheiden: einmal im Zuge multikultureller Moden eine Tendenz zur Romantisierung, die auch Verbrechen und Mißbräuche als Zeichen der kulturellen Andersartigkeit deuten will und sie indirekt rechtfertigt. Diese Strömung ist schwach, aber sie existiert. Zweitens eine Richtung des alten, akademischen Orientalismus, der den Nahen Osten primär unter Literatur- oder sprachwissenschaftlichen oder theologischen Fragestellungen wahrnimmt, ihn damit scheinbar entpolitisiert und vor allem als Kultursystem wahrnimmt. Diese Tendenz ist wenig stärker als die zuvor genannte, verfügt aber durch ihre häufig ausgeprägte “Gelehrsamkeit” und akademische Tradition über ein größeres Maß an Respektabilität. Eines ihrer Spezifika besteht darin, die Sichtweise nahöstlicher Islamisten nicht selten zu übernehmen und zu bestätigen, da sie den Nahen und Mittleren Osten selbst zu oft auf seine religiöse Ideologie reduziert. Viele Islamisten und Vertreter dieser Richtung werfen sich gegenseitig die Bälle zu und legitimieren sich wechselseitig. Eine dritte Strömung zielt vor allem auf eine klare Freund-Feind-Zurechnung. Ihr geht es vor allem um die Definition des Islam als Gegenpol zum Westen, als neuem Feind nach dem Ende des Kalten Krieges. Dies kann von christlich-fundamentalistischer Warte aus geschehen, wie bei Baar, mit aufklärerischem oder progressiven Gestus, wie etwa bei Peter Priskil oder mit Einschränkungen bei Rolf Scholz, der wie so viele unbedingt das Abendland retten möchte, oder mit “realpolitischem” Touch, wie von Samuel Huntington versucht, dem es vor allem um die Legitimierung weiterer militärischer Rüstung nach dem Ende der Sowjetunion geht. Die demonstrative Hysterie der meisten dieser Vertreter steht der zahlreicher anti-westlicher Hitzköpfe des nahöstlichen Raumes in nichts nach. Viertens existieren natürlich auch in Europa und Nordamerika intellektuelle Vertreter, die sich um eine stärker sachbezogene Analyse der Politik und Religiosität des Nahen Ostens bemühen. Reinhard Schulze, Gudrun Krämer oder John Esposito sind Exponenten dieser Richtung. Ihnen geht es darum, nicht reflexartig immer das “Gute” oder das “Schlechte” in den Gesellschaften des Nahen oder Mittleren Ostens zu sehen, sondern sich ebenso ernsthaft um deren Analyse zu bemühen, wie das Sozialwissenschaftler im Westen mit den Problemen der eigenen Gesellschaften tun.
Ein interkultureller Dialog? Welche Schlüsse lassen sich nun für das Vorhaben eines interkulturellen Dialoges ziehen?
1. Zuerst einmal muß festgestellt werden, daß die gegenwärtige Kommunikationsform zwischen beiden Kulturkreisen durchaus eine wechselseitige Beeinflussung beinhaltet - daß diese aber keinen dialogischen Charakter hat. Die wechselseitige Wahrnehmung beider Kulturkreise setzt Austausch voraus, einen Austausch von Kenntnissen voneinander und von Ideen. Diese Kommunikation führt aber nicht von selbst zu einer zutreffenden und differenzierten Fremdwahrnehmung, sondern wird immer von den eigenen politischen, ideologischen und psychologischen Bedingungen und Bedürfnissen gefärbt. Das ist kaum erstaunlich, bedeutet allerdings praktisch, daß eine bloße Vermehrung von Wissen über den Anderen kaum die Verzerrungen und Vorurteile wird beseitigen können. Die verzerrten wechselseitigen Wahrnehmungen beruhen eben nicht auf Informationsmangel, sondern erfüllen bestimmte Funktionen im eigenen Denken oder der eigenen Gesellschaft. Der Wunsch etwa nach klarer Freund-Feind-Zurechnung wird nicht dadurch vermindert, daß man die Verwandtschaft des Islam mit dem Christentum betont. Aus der gegenwärtigen, naturwüchsigen Kommunikationsform kann erst dann ein Dialog erwachsen, wenn er nicht vorwiegend auf den Austausch von Informationen und Positionen zielt, sondern die eigenen Interessen und Bedürfnisse für die Wahrnehmung des Anderen mitzuthematisieren bereit ist. Solange ein Dialog vor allem mit der Absicht angestrebt wird, den Anderen zu belehren, und wenn die Chance etwas Neues über sich selbst zu erfahren ausgeschlagen wird, kommt er entweder nicht zustande oder ist nutzlos.
2. Der gegenwärtige Austausch ist unter anderem deshalb kein Dialog, weil er weder von gleich zu gleich stattfindet, noch die beiden Seiten bereit sind, ihre Positionen selbst in Frage zu stellen oder in Frage stellen zu lassen. Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung: einerseits besteht in der politischen, ökonomischen und militärischen Realität ein krasses Machtungleichgewicht, und es ausgesprochen schwierig, zwischen Mächtigen und Machtlosen einen gleichgewichtigen Dialog zu führen. Es besteht immer die Gefahr und die Tendenz, daß dialogisches Verhalten nur zum Schein betrieben wird, da sich ja beide Seiten immer über die Machtverhältnisse im Klaren sind und sein müssen. Der mächtigen Seite wird es oft an Geduld fehlen, da sie ja einen Dialog eigentlich gar nicht braucht - zumindest nicht so dringend wie die Gegenseite - während die schwächere ständig den Verdacht hegen wird, ihr übermächtiger Dialogpartner führe ihn ohnehin nur zum Schein oder unter rein taktischen Gesichtspunkten. Dies wiederum muß ihr nahelegen, ihn selbst nicht ernsthaft zu führen oder eigene Positionen starr zu verteidigen, schließlich ist man ohnehin in der Defensive. Wer in Europa und Nordamerika einen tatsächlichen Dialog mit dem islamisch geprägten Kulturraum anstrebt, muß sich über dieses strukturelle Problem ernsthafte Gedanken machen. Eine Beteuerung des eigenen guten Willens reicht hier nicht aus, weil dieser gute Wille - selbst wo er existiert und nicht nur behauptet wird - kaum geglaubt werden kann.
3. Verbunden mit dem Problem des Machtgefälles im Kontext eines angestrebten Dialoges ist die Schwierigkeit, daß nicht selten die Überlegenheit der einen Seite bereits zu Arroganz und Überheblichkeit geführt hat - verständliche, aber eher hinderliche Geisteshaltungen. Wer schon öfter europäische oder nordamerikanische Politiker, Intellektuelle oder Journalisten im Nahen oder Mittleren Osten erlebt hat, ihre nicht selten aufdringliche Tendenz zur Besserwisserei, ihren subtilen oder nicht mehr subtilen Rassismus, diverse Spielarten von Euro- oder Egozentrismus bis hin zu kolonialem Gehabe, wird wissen, in welchem Maße das einen tatsächlichen Dialog erschwert. Auch joviale Anbiederei und intellektuelles Schulterklopfen als Alternative helfen hier nicht weiter. Umgekehrt hat das Machtungleichgewicht bei Gesprächspartnern im Nahen und Mittleren Osten nicht selten Haltungen hervorgebracht, die einem Dialog ebenfalls abträglich sind: das kritiklose Akzeptieren eben jener Besserwisserei, oder das pauschale Zurückweisen westlicher Argumente, selbst wenn diese richtig sind, da sie ja als aufgezwungen empfunden werden.
4. Es stellt sich weiter die Frage, wer eigentlich die Subjekte eines interkulturellen Dialoges sein sollten und könnten. Bundesaußenminister Kinkel glaubt ja seit längerem, einen “kritischen Dialog” mit dem Iran zu führen, auch wenn weder ein Dialog, noch erkennbar ist, was an der Iranpolitik eigentlich “kritisch” wäre. Es ist auch nicht verwunderlich, daß Regierungen sich eher an der Wahrnehmung von Interessen - in diesem Fall der deutschen Exportwirtschaft - als an interkulturellem Austausch interessiert zeigen.
Die vom Auswärtigen Amt in letzten Jahr geplante “Islamkonferenz” reflektierte dieses Problem: So sinnvoll die Idee eigentlich war, wurde sie doch zu einer hybriden Mißgeburt von Regierung-zu-Regierungsdiplomatie und intellektuellem Austausch, bei der die geplante Anwesenheit verschiedener Außenminister der Region (vor allem des iranischen) alle Aufmerksamkeit auf sich zog. So falsch die kurzfristige Absage auch war, so falsch war auch die Anlage der Konferenz. Ausgerechnet mit Ministern anderer Staaten über “den Islam” diskutieren zu wollen war eine Schnapsidee: wäre denn der Bundesaußenminister der richtige Gesprächspartner, um in Kairo, Teheran oder Rom über “das Christentum” zu referieren?
Es drängt sich die Frage auf, ob denn Regierungen die geeigneten Subjekte sind, einen solchen Dialog der Kulturen zu führen. Daran sind zumindest Zweifel angebracht. Gerade beim diplomatischen Verkehr sind die Machtaspekte besonders ausgeprägt: Regierungen stellen schließlich nichts anderes dar, als eine Bündelung und Organisierung gesellschaftlicher und staatlicher Macht. Und ihre Aufgabe besteht auch darin, die eigenen Interessen nach außen auch gegen Widerstände zu fördern oder durchzusetzen. Wer gegen solche Dialogpartner nicht mißtrauisch wäre, ist selber Schuld. Verschärft stellt sich das Problem im Nahen und Mittleren Osten. Dort besteht immer noch ein großer Teil der Regierungen aus Diktaturen oder Pseudodemokratien, die jeweils die eigene Bevölkerung von der Macht ausschließen, unterdrücken, oder ihre Rechte einschränken. Mit genau diesen Kräften einen “Dialog” zu führen mag nützlich sein, ist oft unvermeidbar - aber kann kaum das Ziel eines Dialoges der Kulturen sein. Einen Dialog westlicher Wirtschaftsinteressen mit nahöstlichen Diktaturen gibt es außerdem schon lange, und es scheint nicht vorteilhaft, ihn jetzt als multikulturelle Veranstaltung zu annoncieren.
5. Wer also an einem Dialog interessiert ist, sollte ihn zuerst als gesellschaftlichen führen. Europäische und amerikanische Intellektuelle sollten mit ihren nahöstlichen Gegenparts sprechen, Vereine, Verbände und Medien die Zusammenarbeit und den Streit intensivieren, Schulen und Universitäten, Kommunen und Bundesländer, Kirchenkreise, Umwelt und Menschenrechtsgruppen sich um verstärkte Kontakte und Kooperation bemühen. Das alles ist naheliegend, aber trotzdem richtig. Natürlich wäre es falsch, den politischen Bereich heraushalten zu wollen: Parteien und auch die Bundesregierung sollten durchaus einbezogen sein, aber eine fördernde und flankierende und keine leitende Rolle spielen. Eine Beteiligung der Bundesregierung ist schon deshalb an einem bestimmten Punkt sinnvoll, um ein besonders hohes Gewicht eines solchen Austausches zu symbolisieren. Auch die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen setzt in vielen Ländern der Region voraus, daß die Regierungen sich auf die Führung eines solchen Dialoges verständigen. Nur: die Regierung darf sich nicht die Illusion machen, sie selbst können einen solchen Dialog ernsthaft führen oder gar ersetzen. Die deutsch-französischen oder deutsch-israelischen Beziehungen hätten als reine Regierungsveranstaltung ohne soziale Substanz sich auch kaum so fruchtbar entwickeln können.
6. Umgekehrt stellt sich die Frage, wer innerhalb der nahöstlichen Gesellschaften denn die geeigneten Ansprechpartner sein könnten. Dieses Problem ist deutlich schwieriger zu lösen, insbesondere in diktatorischen Verhältnissen. Aber es ist zumindest offensichtlich, daß die pro-westlichen Fundamentalisten im Nahen und Mittleren Osten, die den Westen selbst nur imitieren wollen, nicht die Gruppe sein sollte, die im Zentrum des Dialoges steht. Sonst würde man nämlich kulturell einen Dialog mit seinem Spiegelbild führen, was zwar bequem, aber kaum ergiebig wäre. Die Bewunderer des Westens sollten durchaus einbezogen sein, aber keine herausgehobene Behandlung erfahren - sonst würde dies gleich wieder symbolisieren, daß man einen Austausch nur mit sich selbst und zu den eigenen Bedingungen wünscht. Andererseits wäre es wenig aussichtsreich, den Dialog ausgerechnet mit anti-westlichen Hardlinern beginnen zu wollen. Auch diese Gruppe sollte keinesfalls ausgeschlossen werden, aber da sich ihre Dialogbereitschaft oft in Grenzen halten wird, darf er nicht von ihrem Wohlwollen abhängig gemacht werden. Die Gruppen und Sektoren nahöstlicher Gesellschaften zwischen diesen beiden Extremen sollten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, und darin wieder die Intellektuellen, zumindest in einer Anfangsphase. Dabei muß es gleichgültig sein, ob die Gesprächspartner atheistisch, säkular, traditionell religiös oder islamistisch, ob es Christen oder Muslime sind. Der Dialog muß die einbeziehen, die zu ihm bereit sind. Es wäre allerdings absurd, die demokratischen, säkularen und aufgeschlossenen religiösen Strömungen nicht ins Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit zu stellen. Genau hier aber liegt ein Pferdefuß des Dialogs der Regierungen: genau diese Kräfte sind es, die nicht selten verfolgt und unterdrückt werden oder im Gefängnis sitzen - und genau diese Kräfte möchten viele Regierungen der Region marginalisieren. Die Bundesregierung dürfte noch mehr Schwierigkeiten haben als gesellschaftliche Organisationen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, da hier die diplomatischen Erfordernisse mit denen des Dialoges ständig in Konflikt liegen.
7. Es sollte noch darauf hingewiesen werden, daß ein interkultureller Dialog zwischen den Gesellschaften des Westens und denen des Nahen und Mittleren Ostens keinesfalls auf theologische Fragen verkürzt werden darf, wenn er sinnvoll sein soll. Ein Dialog mit “dem Islam” ist sicher nicht schädlich, aber vor allem Aufgabe der Christen und ihrer Kirchen. Aber er ist nebensächlich, was wohl auch der Grund ist, daß er weder von Christen noch Muslimen ernsthaft geführt wird. Wer den Dialog mit den Gesellschaften und Menschen der Region immer reflexartig auf die Religion konzentrieren möchte, fällt auf die Argumente der Islamisten und Orientalisten hinein: er akzeptiert und verstärkt die ideologische Machtansprüche der Ulema und der Islamisten. Ein solches Verfahren würde stillschweigend akzeptieren, daß die islamische Religion die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens definiert - und damit genau jene Kräfte unterstützen, die dies erst einmal durchsetzen wollen. Man würde den säkularen Kräften der Region in den Rücken fallen und demonstrieren, daß selbst der angeblich säkulare Westen sie nicht ernstnimmt. Ein Dialog der Theologen oder mit den Theologen kann keinen Dialog der Kulturen und Gesellschaften ersetzen. Wer einen solchen möchte, muß mit den Menschen der anderer Region über die tatsächlichen Probleme reden, über die Überwindung der Armut, über Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung, der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens, über Formen der Zusammenarbeit, die auf imperiale Vorherrschaft verzichten. Man muß dann über die Umwelt und die Menschenrechte, über die Überwindung der lokalen Diktaturen, über das Erbe des Kolonialismus und die Gleichgültigkeit des Westens und über all das sprechen, was wichtig ist und schmerzt. Dabei dürfen auch die Fehler und Mißbräuche westlicher Politik im Nahen Osten und ihre Mitverantwortung für einen Teil der dort existierenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgespart werden. Wenn man aber, anstatt über die wirklichen Probleme der Region und die gegenseitigen Vorbehalte zu sprechen, den Dialog auf theologische Fragen konzentrierte, wäre dies nur ein Ablenkungsmanöver auf ein Gebiet, das nichts kostet - und damit ein Ausweichen vor einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Anderen.
8. Schließlich sollte natürlich nicht vergessen werden, daß sich der gewünschte interkulturelle Dialog zwar der Natur der Sache nach zwischen den Kulturen abspielen muß, daß er aber zugleich innenpolitische Dimensionen hat. Die Millionen von Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten, vor allem aus der Türkei, aber auch aus dem arabischen Raum, aus dem Iran und Pakistan, können bei uns entweder als Fremdkörper oder als Brücke empfunden werden. Ein interkultureller Dialog darf diese Menschen nicht ausschließen oder ignorieren, sondern es wäre im Gegenteil sinnvoll, mit ihnen einen gesonderten Dialog zu führen. Das gegenwärtige Nebeneinanderherleben beispielsweise von Türken und Deutschen, bei dem erstere sich gefälligst zu assimilieren haben, ansonst aber ignoriert werden, solange sie sich ruhig verhalten, verschenkt nicht nur die Chance eines besseren Miteinander, sondern läßt auch die Möglichkeiten ungenutzt, gemeinsam mit den Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern einen fruchtbaren Dialog mit den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu beginnen.
Fazit Der interkulturelle Dialog, den Bundespräsident Herzog angeregt hat, ist ausgesprochen wünschenswert, er ist sinnvoll und mittelfristig sogar dringend notwendig, wenn der Entstehung überflüssigen Konfliktpotentials vorgebeugt werden soll. Angesichts der in den letzten fünf oder sechs Jahren zunehmenden Wiederbelebung uralter Vorurteilsmuster und deren neuer Präsentation auch in respektablem Gewande sollte hier keine Zeit verloren werden. In der Innenpolitik wäre eine Verbindung der verbreiteten Ausländerfeindlichkeit mit der modischen anti-islamischen Hysterie eine Kombination mit gefährlicher Sprengkraft. Nach außen, in Richtung des Nahen und Mittleren Ostens, bilden die negativen Schematisierungen ein immer verfügbares Reservoir der Emotionalisierung, das sich für die Rechtfertigung militärischer oder anderer Abenteuer im “Krisenbogen von Marokko bis Indonesien” (Naumann) leicht mobilisieren läßt. Während des Zweiten Golfkrieges haben wir davon bereits einen Vorgeschmack bekommen. Der Bundespräsident hatte von der Gefahr der “Unkenntnis, falsche(n) Assoziationen, Überheblichkeiten und Vereinfachungen” gewarnt. Und er hatte formuliert: “Ich bin überzeugt, daß das leichtfertige Szenario des ‘clash of civilizations’, des globalen Kulturkampfes, kein unentrinnbares Schicksal unserer Welt ist. Wenn wir allerdings zulassen, daß ein solcher Kulturkampf als nächster großer Konflikt nach dem Ende des Kalten Krieges herbeigeredet wird und sich in den Köpfen festsetzt, kann er nur allzuleicht zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.” Diese Gefahr ist real, und sie kann nur durch einen breiten Dialog der Kulturen vermieden werden, der von beiden Seiten mit großem Ernst geführt wird: also nicht aus Höflichkeit, sondern mit Offenheit und der Bereitschaft, auch sich selbst und die eigenen Positionen neu zu durchdenken.
Quelle: Anmerkungen zu einem interkulturellen Dialog zwischen dem Westen und dem Nahen und Mittleren Osten, in: Interkulturell – Forum für Interkulturelle Kommunikation, Erziehung und Beratung, Heft 4, Jahrgang 1996, (Forschungsstelle Migration und Integration, Pädagogische Hochschule Freiburg), S. 25-43
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